Heft 852, Mai 2020

Ellipsen und Pfeile

Empirische Politikwissenschaft von Oliver Weber
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Politikwissenschaft, das ist eine empirische Wissenschaft. Diese in Anwesenheit von wissenschaftlichen Neulingen stets ermahnend auszusprechende Formel bekamen wir oft zu hören, als ich vor etwa einem Jahr mit fünf Kommilitonen in einem Bachelorkolloquium saß. Die Veranstaltung sah vor, dass wir gemeinsam mit unserem Professor für Politikwissenschaft Themen für unsere Bachelorarbeit erarbeiteten, diskutierten und die Mitanwesenden regelmäßig über den Stand unserer Untersuchung informierten. Die Universität hatte eine bis zum Reduktionismus reichende klare methodische Ausrichtung, so dass von Vornherein feststand, in welchen Bahnen wir uns zu bewegen hatten. Das nicht so heimliche triadische Motto unserer Fakultät – analytisch, empirisch, quantitativ – duldete keine Abweichung. Und wer hätte schon abweichen können angesichts einer Ausbildung, die nichts anderes in das Curriculum aufnahm?

Also näherten wir uns pflichtbewusst, das heißt empirisch-analytisch und mit allen möglichen Quanta im Kopf, unserer jeweiligen Fragestellung. »Ich würde gerne über den Zusammenhang von politischer Sozialisation und rechtspopulistischen Einstellungen schreiben«, lautete etwa ein Vorschlag. »Haben Sie dafür einen Datensatz?« lautete die Frage unseres Professors. Bis uns alle Überreste qualitativer oder gar normativer Flausen ausgetrieben waren, vergingen ein oder zwei Wochen. Als jeder eine empirisch-quantitativ bearbeitbare, streng analytisch interessierte Fragestellung gefunden hatte, waren wir so weit, eine andere Welt betreten zu dürfen. Sie wurde »Digraph« genannt.

In dieser Welt musste unsere Theorie mithilfe von Ellipsen und Pfeilen formulierbar sein. Die Ellipsen, formal korrekt »Knoten« oder »Ecken« genannt, standen für theoretische Konzepte. Die Pfeile, formal korrekt eigentlich »Kanten«, brachten einen kausalen Zusammenhang zum Ausdruck. In die Ellipsen malten wir Wörter wie »Sozialisation«, »Einstellung zur Europäischen Union« oder »inkonsistente demokratische Institutionen« hinein und verbanden sie mithilfe von Pfeilen mit anderen Ellipsen, die beispielsweise die Namen »Politische Involvierung«, »Wahlentscheidung bei der Europawahl« oder »Bürgerkrieg« tragen konnten. So übersetzte sich, oder besser: so musste sich unsere in Worten formulierte Theorie in eine geometrische Zeichnung übersetzen lassen, in der der Kausalität unseres politischen Gegenstands klar und deutlich Rechnung getragen werden konnte, indem er von allerlei sprachlicher Ungenauigkeit entkleidet war.

Sprach die Theorie von Abhängigkeiten, Bedingungen, Verhältnissen, Kopplungen, Rückwirkungen, Strukturen, Gefügen oder Netzwerken, so stellte sich einzig und allein die Frage, ob sich das Gesagte in einen verstehbaren Pfeil zwischen wohlgezeichneten Ellipsen verwandeln ließe. Denn wo Studenten – selbst im sechsten Semester immer noch methodisch undiszipliniert – der Schwierigkeit ihres Gegenstands mit ebenso schwierigem und verworrenem Vokabular Herr zu werden versuchen, sieht das ältere Semester vor allem unklare Kausalbehauptungen zwischen unklaren Konzepten. Welches X beeinflusst welches Y? Wenn wir diese Frage noch nicht beantworten konnten, hatten wir Arbeit für die nächste Sitzung.

Diese Geometrie war recht simpel, aber gerade ihre Einfachheit bereitete uns Schwierigkeiten. Was ist das, ein Bürgerkrieg – jenseits jeder konkreten Beschreibung, wie sie zu diesem Zeitpunkt die Nachrichten täglich etwa zum Fall Syrien lieferten – und davon abstrahiert, als bloßes theoretisches Konzept, als Ellipse? Die Aufgabe sah vor, unsere Theorie von allen solchen Störbedingungen zu bereinigen: Wo liegt die Schwelle, an der sich ein bewaffneter Konflikt in einen Bürgerkrieg verwandelt? Bei tausend Toten innerhalb von drei Jahren. Wie unterscheidet man demokratische von nichtdemokratischen Institutionen? Zum Glück gibt es Demokratie-Indizes, die hierfür Koeffizienten liefern. Ist es eigentlich egal, wo der Bürgerkrieg auftritt? Nein, also kontrollieren wir für den Effekt der Bevölkerungsgröße. Spielen die Motive der Kriegsparteien eine Rolle? Vermutlich, irgendwie, also klassifizieren wir nach Religiosität, Ethnizität und Politizität. Spielt es eine Rolle, ob es im Land ein großes Gebirge gibt? Militärisch ja, also muss die Höhengeografie herausgerechnet werden. Bleibt es bei ausländischer Involvierung ein Bürgerkrieg? Und so weiter und so fort.1

Unser Professor malte, jedes Mal, nachdem einer von uns seine Theorie geometrisch auf der Tafel skizziert hatte, eine große Wolke um die eigentlichen Ellipsen und Pfeile, die er mit wilden Kreidestrichen füllte. Diese Wolke sollte die soziale Komplexität symbolisieren, mit deren wabernder Existenz außerhalb unserer feinen Zeichnungen wir stets zu rechnen hätten, um etwaige Interferenzen, Störungen, Verunreinigungen auszuschließen.

Dass Politik als Ausdrucksform menschlicher Gesellschaften ohnehin zu den komplexesten und schwierigsten wissenschaftlichen Gegenständen gehören würde – man denke nur an die vielen möglichen Interferenzen, wie SPD-Mitgliederentscheide! –, gehörte ohnehin zur opinio communis unserer Dozenten. In dieser Feststellung lag nichts Provokatives, ging es ihnen ja gerade darum, in diesen Wirrwarr aus Halbgarem, Verbundenem, Verunreinigtem, Wildem, Unentschlossenem, Imperfektem und Kontingentem ein paar klar umrissene Ellipsen und Pfeile einzuzeichnen, mit deren Hilfe man die Welt dann besser verstünde. Wir mussten mit der einfachstmöglichen Formel beginnen, gerade weil die politische Welt so unglaublich komplex war.

Von der ersten bis zur letzten Vorlesung wurde niemand müde zu betonen, wie fundamental schwierig ein Gegenstand wie Politik sei, nur um dann auf der nächsten Folie den einfachstmöglichen empirischen Zusammenhang zum Ausgangspunkt zu nehmen: Eine unabhängige Variable X beeinflusst eine abhängige Variable Y. Oder noch genauer: Yi = β0 + β1 xi + εi, wobei Y die erklärte, xi die erklärende Variable, β das Ausmaß der Erklärung und ε zufällige statistische Einflüsse symbolisierte. Mit dieser Formel einer einfachen linearen Regression sollten wir uns das politische Geschehen aufschließen.

Alles was dazu noch fehlte, war nur eine auf vergleichbare Zusammenhänge zugeschnittene Theorie, die die vorgestellten Ellipsen und Pfeile in Worte fasste, deren Übersetzung in quantitativ messbare Objekte und eine ordentliche statistische Analyse. Wir mussten also von diesem Bürgerkrieg absehen, in dem die unterstellten kausalen Zusammenhänge (von Gesetzen traute sich niemand zu sprechen) natürlich immer nur quasi zum tragen kamen, um Aussagen über die Ursachen (von Ursache im Singular traute sich niemand zu sprechen) des Bürgerkriegs treffen zu können.

Aber immer saß uns diese Wolke im Nacken. Es gab nun mal nicht den Bürgerkrieg, sondern immer nur ganz verschiedene, in einem jeweils unterschiedlichen Kontext stehende, von allerlei Störbedingungen, wie unterschiedlichen Staatsgrößen, Geografien, Ideologien, Motiven, gesellschaftlichen Gruppen, Vorläufern, historischen Genesen, ausländischen Einmischungen und sozioökonomischen Bedingungen verunreinigte Bürgerkriege, deren Eigenart es stets schwierig machte, sie zu einem allgemeinen Konzept zusammenzubinden und gleichzeitig noch sinnvolle Aussagen über sie zu treffen. Und weil ein in so mannigfaltigen Bezügen stehendes politisches Phänomen nur selten auf ein paar Ursachen reduziert werden konnte, war auch die Formel Yi = β0 + β1 xi + εi oft genug zum Scheitern verurteilt.

Zum Glück lässt sich aber auch das Scheitern beziffern. Das Bestimmtheitsmaß R2 sagte uns etwa, welcher Anteil der Varianz unserer abhängigen Variable von unserer unabhängigen erklärt werden konnte. Und so verdankt sich die in den Sozialwissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften notorisch niedrige Varianzerklärung nicht selten eben jener ausgeschlossenen Komplexität, die sich hinterrücks in der statistischen Analyse rächt. So schreibt etwa ein verbreitetes amerikanisches Lehrbuch für Politikwissenschaft, nachdem es am Beispiel der durch die ökonomische Lage zu erklärenden amerikanischen Präsidentschaftswahl das geringe Ausmaß erklärter Varianz betrauert hat: »On the other hand, looking at this another way, we can say that we are able to come this close, and, in terms of R2, explain almost 33 % of the variation in presidential vote from 1876 to 2008 with just one measure of economy. When we start to think of all of the different campaign strategies, personalities, scandals, wars, and everything else that is not in this simple model, this level of accuracy is rather impressive.«2

Der Mangel wird angesichts der Wildheit des Gegenstands als Erfolg begriffen: Eine einfache Kausaltheorie bewährt sich auf geringem statistischem Niveau, obwohl das Phänomen eingestandenerweise um ein Vielfaches komplexer ist. Aber ist das wirklich ein Erfolg? Selbst mit einem auch nur geringen, von einer Kausalanalyse niemals erreichten Standardfehler von fünf Prozentpunkten bleibt statistisch völlig offen, ob Hillary Clinton oder Donald Trump das Präsidentenamt bekleiden wird. Und dabei ist noch gar nicht bedacht, was dieses Ergebnis wiederum für politische, soziale und ökonomische Interferenzen zeitigen wird. Reichensteuer oder finanzielle Entlastung für Millionäre? Unterstützung für Black Lives Matter oder Zuspruch für die Alt-Right? Bekämpfung des Klimawandels oder dessen Leugnung?

Selbst mit einem die kühnsten statistischen Träume übersteigenden kausalen Vorhersagemodell der amerikanischen Präsidentschaftswahl kämen wir zu keiner Erkenntnis, die uns die nächsten vier Amtsjahre angemessen abzuschätzen erlaubte. Deswegen vertrauten wir, als die Präsidentschaftswahl anstand, auch nicht auf die im vorherigen Semester einstudierten Wahlmodelle und schliefen beruhigt daheim, sondern verbrachten die Nacht angespannt im Vorlesungssaal vor einer Leinwand, auf der die Fakultätsleitung CNN übertragen ließ. Das Ergebnis stand keinesfalls fest – und der Ausgang überraschte so gut wie jeden.

So ergaben sich auch aus den Ellipsen und Pfeilen unseres Bachelorkolloquiums höchstens marginale Zusammenhänge. Die mit großem Aufwand erarbeitete Varianzklärung war immer um ein Vielfaches geringer als das Ausmaß der komplexen Störbedingungen, die wir zu bändigen versuchten. Und alles andere wäre auch eine Sensation gewesen, weil ein solches Ergebnis jenseits jeder sozialwissenschaftlichen Routine läge. Irgendwie ließen sich die Phänomene, mit denen wir politikwissenschaftlich zu tun hatten, nicht in eine glaubhafte Geometrie überführen. Immer wieder bereiteten uns dieser Bürgerkrieg oder diese Wahlentscheidung unendliche Probleme. Wir wurden beide nicht los, so sehr wir auch wollten.

Dass wir auf keine politikphysikalische Mechanik stießen, rief aufseiten unserer Ausbilder keine Verwunderung hervor. Sie stießen ja auch selbst auf keine. Eine offen zur Schau gestellte und doch untertriebene Partikularität der eigenen Analyse begleitete noch jede Veröffentlichung. Verwundernd war nur, dass niemand auf die Idee kam, darin ein Problem zu sehen. Ganz im Gegenteil. Meistens ergab sich daraus die Legitimation, die Bemühungen im Rahmen der eigenen Methode zu intensivieren, bis man zu ergiebigeren Ergebnissen kommen könnte: »Further research is needed.« Das ins Unendliche verschobene Gelingen der kausalen Abstraktion funktioniert wie eine akademische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme: Je mehr, desto mehr.

So kommt es, dass sich seit dem Entstehen der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag die Verhältnisse ordentlich verschoben haben. Dominierten vor allem in den sechziger und siebziger Jahren Auseinandersetzungen zwischen Vertretern einer sogenannten kritisch-dialektischen und normativ-ontologischen Wissenschaftskonzeption das Feld, schrieben sich Ende der neunziger Jahre schon zwei Drittel der Profession einer empirisch-analytischen Richtung zu.3 Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass immer mehr Lehrstühle, die sich der Tendenz naturgemäß entziehen, wie etwa solche für Politische Theorie, Philosophie oder Ideengeschichte, hybridisiert, also mit empirisch-quantitativen Fragestellungen befrachtet oder ganz abgeschafft werden. Ireneusz Paweł Karolewski, der diesem Vorbild folgend jüngst an den neubenannten Leipziger Lehrstuhl für »Politische Theorie und Demokratieforschung« berufen wurde, stellte dazu fest, »eigentlich sollte das überall so sein«, denn die Politikwissenschaft sei ein empirisches Fach.4

Aber ist sie das? Wenn ich an die Welt der Digraphs denke, jener Ellipsen und Pfeile und der bedrohlichen vollgekritzelten Wolke außen herum, beschleichen mich ernsthafte Zweifel. Denn dieser erfahrbare Bürgerkrieg interessierte unsere Dozenten aus wissenschaftlicher Perspektive kaum. Was zählte, war das Abstrahierbare an ihm, jene Möglichkeit, ihn an die Stelle einer Funktion oder Formel zu setzen, die den Weg in Richtung einer geometrischen Mechanik wies. Jedoch konnte die Komplexität aus Störbedingungen niemals ausreichend minimiert werden, um eine solche geometrische Welt plausibel zu machen, sie rächte sich ständig an uns Studenten, wie ein unbesiegbares Gegenüber, das von der Theorieformulierung bis zur Datenauswertung überall verunreinigend die Finger im Spiel hatte.

Dass dieses Problem nicht nur uns Bachelorstudenten betraf, sondern der Profession inhärent ist, zeigen die jüngeren Debatten um die Ursachen des Aufstiegs rechtspopulistischer Parteien: In geringem zeitlichen Abstand rufen Vertreter der einen oder anderen Seite verschiedene systemische, kulturelle, ökonomische, politische oder mediale Kausalitäten aus, die »eigentlich« hinter dem Erfolg dieser oder jener Partei stünden.5 Die oftmals durch ordentliche statistische Analyseverfahren belegten Ergebnisse changieren zwischen allen erdenklichen Variablen wie Ungleichheit, Arbeitslosigkeitserfahrung, zurückgebauter Infrastruktur, geringer Bezahlung, Einstellung zu diesem oder jenem, Werten, Angela Merkel, der Demokratie oder der Kindererziehung.

So kommt es, dass viele Studien dieser Art zumindest in Teilen wie fishing expeditions aussehen: »Man angelt im großen Teich der möglichen Ursachen herum und präsentiert dann einen Überblick darüber, wie jede Variable mit jeder anderen und mit der Gesamtheit aller herausgefischten Variablen insgesamt zusammenhängt, und ansonsten überlässt man alles weiteren (noch) ausstehenden Replikationsstudien.«6 Und weil sich zu jeder behaupteten Formel prinzipiell unendlich viel Unbedachtes, Ausgeschlossenes, Nichterwähntes aus der vollgekritzelten Komplexitätswolke ziehen lässt, muss jede Formel aus Mangel an Akkuratheit wieder aufgegeben werden, noch bevor der konkrete AfD-Wähler endgültig in eine handhabbare Ellipse verfrachtet werden kann.

Die Fragwürdigkeit kausal interessierter Untersuchungen der Politik zeigt sich jedoch nirgends so deutlich wie dort, wo die Unvorhersagbarkeit des Ereignisses zu seinen Gelingensbedingungen zählt: bei Revolutionen. Schon früh nach dem Ausbrechen der Iranischen Revolution, die 1979 zur Absetzung von Schah Mohammad Reza Pahlavi und zur Konstitution der bis heute bestehenden Theokratie führte, kritisierten amerikanische Journalisten und Politiker, dass die in Iran tätigen Diplomaten nicht rechtzeitig die Zeichen der Zeit gedeutet hätten. Konkret richtete sich der Vorwurf darauf, dass die Botschafts- und Geheimdienstmitarbeiter zu wenig mit der iranischen Bevölkerung gesprochen und so das Ausmaß der Unzufriedenheit unterschätzt hätten. Stattdessen bescheinigten sie dem Regime des Schahs ausreichende Stabilität. US-amerikanische Ignoranz – ein beliebter Topos außenpolitischer Kritik.

Es sind jedoch ernsthafte Zweifel angebracht, ob umfangreicheres Geheimdienstwissen bei noch so aufmerksamen Zuhörern zu einer besseren Vorhersage geführt hätte. So gut wie kein amerikanischer Wissenschaftler, der sich das moderne Iran zum Gegenstand genommen hatte, sah die Revolution kommen. Das betraf neben Ökonomen, die von ernsthaften wirtschaftlichen Problemen berichteten, gerade auch Politikwissenschaftler, die Regierung und Opposition interviewt hatten, ausführlich über die Schwierigkeiten der iranischen Institutionen informiert waren und dennoch nicht vorhersahen, was im November 1977 in Täbris und Schiras mit ersten militanten Anti-Schah-Demonstrationen seinen Anfang genommen hatte.7 Einen starken Anstieg und schließlich Fall des Ölpreises, massive Migration zwischen ländlichen und urbanen Regionen, Autokratie und Amerikafeindlichkeit – so einige prominente Ursachenbehauptungen – gab es zum Teil sogar in höherer Ausprägung auch in anderen Ländern, zu diesem Zeitpunkt führten sie aber nur in Iran zu einer Revolution.8 Die Kenntnis der Ursachen vergangener garantiert nicht die Vorhersage zukünftiger Revolutionen, schlichtweg weil es sich um einen in wahrscheinlich tausend neuen Beziehungen stehenden Gegenstand handelt, dessen Komplexität auszublenden Bedingung der vorangegangenen Kausalanalyse war.

Auch methodische Innovationen im Bereich des maschinellen Lernens schaffen das Kontingenzproblem nicht aus der Welt: Ein unter der Leitung des wohl ausgewiesensten quantitativen Bürgerkriegsforschers entwickeltes Vorhersagemodell prophezeite 2011 eine 0,05-Prozent-Chance von Gewaltausbrüchen in Syrien.9 Nur wenige Monate später befand sich das Land im bis heute andauernden und die Weltpolitik bestimmenden Bürgerkrieg. Dass dieses und vergleichbare Modelle überhaupt ab und an einigermaßen adäquate Einschätzungen liefern, ist größtenteils darauf zurückführbar, dass die eigentlichen Kausalfaktoren kaum Eingang in die Vorhersageberechnung finden und stattdessen bereits stattfindende Gewalt als Indikator für zukünftige herangezogen wird. Das jüngste Vorzeigeprojekt ViEWS etwa bescheinigte Äthiopien im August 2018 eine einprozentige Wahrscheinlichkeit gewalttätiger politischer Auseinandersetzungen. Im September kehrten Oromo-Soldaten in die Hauptstadt zurück und richteten ein Massaker an Minderheiten an. Einen Monat später verzwanzigfachte sich im Modell die Bürgerkriegswahrscheinlichkeit.10

Dies für eine bloße Forschungsschwierigkeit zu halten, einen Mangel, der bis zu seiner Behebung mit größeren Datenmengen und besseren Berechnungsmethoden auszuhalten sei, statt für ein Grundsatzproblem, kann zu eklatanten politischen Fehleinschätzungen führen. So investierten etwa die amerikanischen Geheimdienste von 2008 bis 2011 mehr als 125 Millionen Dollar in zum Teil von Politikwissenschaftlern entwickelte Computermodelle, die weltweit politische Unruhen vorhersagen sollten. Trotzdem war die amerikanische Regierung unfähig, den Arabischen Frühling zu antizipieren.11 Barack Obama schimpfte im Fall Ägypten ebenso wie zuvor Jimmy Carter im Fall der Iranischen Revolution über »bad intelligence«. Aber es mangelte weder an Informationen noch an Wissen, die Berechnungen funktionierten im Rahmen ihrer Fehlerquote höchst präzise.

So erklärte einer der Entwickler einer solchen an die US-Regierung verkauften Software, ein Politikwissenschaftler, das Festhalten an den Programmen damit, dass Politiker sich Fälle wie den Umsturz in Ägypten wie Las Vegas vorzustellen hätten: Auch bei gröberen Fehlerquoten seien die Modelle dem Fehlen von Modellen vorzuziehen. »In blackjack, if you can do four percent better than the average, you’re making real money.« Aber was soll das in einem Fall wie dem Arabischen Frühling bedeuten, vier Prozent? Beim Black Jack, wo die Häufigkeiten und Auswirkungen bestimmter Karten in einem gewissen Rahmen bestimmt werden können, wird ein vier Prozent besseres Vorhersagemodell dem Besitzer Millionen einbringen. In politischen Angelegenheiten, wo die Häufigkeitsverteilungen revolutionärer Ereignisse keinem festen Muster folgen (und auch nicht folgen dürfen, wenn sie erfolgreich sein wollen), jedoch dramatische Auswirkungen haben, sorgen vier Prozent ausschließlich für schlechte Politik.12 Dass an der quantitativen Kausalanalyse etwas faul sein könnte, hätte man indes auch von den exakten Wissenschaften selbst lernen können. Sogar die neidisch beobachtete Physik macht Zugeständnisse in ihrer Exaktheit, wenn sich ihr Forschungsinteresse auf die Praxis in der realen Welt richtet. Ein Ingenieur wird nicht nur auf die Gesetze der Newtonschen Mechanik vertrauen, wenn er mit der Konstruktion einer Brücke betraut ist, die unter ganz mannigfaltigen Störbedingungen – Wind und Wetter, unkalkulierbares Passagierverhalten, Eigendynamik des Materials – bestenfalls ein paar hundert Jahre bestehen soll. Er wird auch nicht versuchen zu errechnen, welches Auto denn nun genau die Ursache eines Einsturzes gewesen sein könnte oder sich damit zufrieden geben, dass mithilfe seines Modells 33 Prozent aller Brücken einsturzsicher gebaut werden konnten.

Wenn das Gelingen einer kausalen Abstraktion politischen Handelns aber für die Politikwissenschaft in so weite Ferne gerückt ist, welchen Sinn hat es dann, beständig so zu tun, als läge sie nur noch einige wenige Paper entfernt? Dass die Inszenierung exakter Wissenschaftlichkeit nicht gerade positiv zur öffentlichen Relevanz beigetragen hat, lässt sich an den vielen Klagen über Relevanzverlust ablesen, die die Disziplin in der Debatte mit sich selbst hervorbringt.13 Auch der so herbeigewünschte Praxisbezug lässt auf sich warten. Der Anteil der publizierten Paper mit Policy-Vorschlägen in der American Political Science Review ist seit 1940 von 30 auf ein Prozent gefallen.14 Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass sich die Möglichkeit quantitativer Kausalanalysen aus dem Ausschluss politischer Komplexität ergibt, politische Akteure aber in der Regel gerade jene komplexen Verflechtungen interessieren, wenn sie die Folgen ihres politischen Handelns abschätzen möchten.

Dass beinahe 30 Prozent der Varianz beim Auftreten von Bürgerkriegen mithilfe von Variablen wie geringem Einkommen und ökonomischem Wachstum, vergangener politischer Instabilität und geringer Militärmacht »kausal« erklärt werden kann, hilft etwa politischen Akteuren, die derzeit im Libanon oder in Südamerika Gewalteskalationen verhindern wollen, herzlich wenig. Was die Politikwissenschaft zu Ursachen erklärt, liegt nicht in der unmittelbaren Handlungsreichweite politischer Akteure. Und selbst wenn sie dort lägen, könnte man an ihnen, anders als die Metapher der Stellschraube suggeriert, nicht einzeln drehen. Wer etwa in Südamerika gerade jetzt in bester Absicht und wissenschaftlich beraten zu einem Aufbau des Militärs auffordern würde, würde dafür von der bedrohten Seite nur umso mehr Misstrauen ernten.

Diese Variablen haben in ihrer Abstraktheit mit dem stets in mannigfaltigen Verbindungen stehenden politischen Handeln so wenig zu tun, gerade weil sie für sich beanspruchen, strenge Kausalitäten zu identifizieren. Zum einen, weil mit dem leistbaren Grad an Sicherheit angesichts der möglichen Auswirkungen keine rechtfertigbare Handlungseinschätzung abgegeben werden kann, zum anderen aber, weil diese Variablen ja gerade in kausalen Analysen einsetzbar werden, indem man sie den Verflechtungen in das konkrete politisch-soziale Gesamtgeschehen entreißt und zu verallgemeinerbaren Faktoren erklärt. Damit lenken sie die Aufmerksamkeit von jenen Störbedingungen weg, in deren Verstrickung Politik ausnahmslos in Erscheinung tritt.

Hier zeigt sich eine Nähe zwischen Beobachter und Gegenstand, zwischen einer Politikwissenschaft, die mit harter Hand Ellipsen und Pfeile in gefährlich verworrene Zusammenhänge zeichnen möchte, und einer Politik, die unter politischem Handeln die Implementierung technokratisch folgenabgeschätzter Gesetze versteht.15 Denn wie sähe eine Politik aus, die einer politischen Mechanik gehorchen würde? Warum sollte man in einer digrafischen Welt überhaupt um kollektiv verbindliche Entscheidungen ringen, sie durchsetzen und revidieren, wenn näherungsweise schon feststünde, welchen Gesetzen die Zukunft eines Gemeinwesens gehorchen wird?

Wenn man gegen die Empfehlung des Vorstands votierende SPD-Mitglieder oder gegen die fehlende Vehemenz der Klimawandelbekämpfung demonstrierende Schüler auf der Straße fragte, welche Ursache sie für ihr Handeln angeben könnten, würde man wohl einem Veränderungswillen verbunden mit einer starken Hoffnung auf Unvorhergesehenes begegnen. Wo wir in der Politik finden würden, was die Politikwissenschaft zu finden bestrebt ist, hörte konkretes politisches Handeln insgesamt auf und verlöre seine Motivation. Die Unmöglichkeit, der mit wilden Kreidestrichen gefüllten Komplexitätswolke Herr zu werden, garantiert das Fortdauern von Politik. Revolution oder diese Revolution – das ist ein Unterschied ums Ganze, wenn uns Politik nur als definiter Ausdruck, niemals aber als Quantor begegnet.

Anmerkungen

1

Håvard Hegre /Nicholas Sambanis, Sensitivity Analysis of Empirical Results on Civil War Onset. In: Journal of Conflict Resolution, Nr. 50/4, August 2006.

2

Paul M. Kellstedt /Guy D. Whitten, The Fundamentals of Political Science Research. Cambridge University Press 2013.

3

Vgl. Jürgen W. Falter, Die Politikwissenschaft in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Ders. /Felix W. Wurm (Hrsg.), Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: Springer 2003.

4

Helke Ellersiek, Theorie versus Empirie. Politische Vermessung der Welt. In: taz vom 13. November 2019 (taz.de/Theorie-versus-Empirie/!5635627/).

5

Für einen Überblick möglicher Theorien vgl. Rüdiger Schmitt-Beck u.a., Die AfD nach der rechtspopulistischen Wende. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Nr. 3, September 2017.

6

Hans-Hermann Hoppe, Kritik der kausalwissenschaftlichen Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1983.

7

Vgl. Nikki R. Keddie, Can Revolutions be Predicted: Can Their Causes be Understood? In: Contention, Nr. 1/2, 1992.

8

Vgl. Henry Munson, Islam and Revolution in the Middle East. New Haven: Yale University Press 1988.

9

Håvard Hegre, Predicting Armed Conflict, 2010–2050. In: International Studies Quarterly, Nr. 57/2, Juni 2013.

10

Tate Ryan-Mosley, We are finally getting better at predicting organized conflict. In: MIT Technology Review vom 24. Oktober 2019 (www.technologyreview.com/s/614568/predicting-organized-conflict-ensemble-modeling-ethiopia-ahmed/)

11

Vgl. Noah Shachtman, Pentagon’s Prediction Software Didn’t Spot Egypt Unrest. In: Wired vom 2. November 2011 (www.wired.com/2011/02/pentagon-predict-egypt-unrest/).

12

Vgl. Nassim Nicholas Taleb /Mark Blyth, The Black Swan of Cairo. In: Foreign Affairs, Nr. 3, Mai /Juni 2011.

13

Für einen Überblick vgl. die Debatte zum Fach der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (www.dvpw.de/informationen/debatte-zum-fach/).

14

Vgl. Lee Sigelman, The Coevolution of American Political Science and the »American Political Science Review«. In: American Political Science Review, Nr. 4, November 2006.

15

Vgl. Astrid Séville, »There is no alternative«. Demokratie zwischen Politik und Sachzwang. Frankfurt: Campus 2017.

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