Krise ohne Alternative
von Oliver WeberI.
»Nö«. – So lautete die Antwort des Bundeskanzlers auf die Frage einer Journalistin am Wahlabend, ob er die Ergebnisse der Europawahl kommentieren wolle. Ein paar Stunden vorher war bekannt geworden, dass die SPD ihr Ergebnis aus dem Jahr 2019 noch einmal unterbieten wird – bis dato das schlechteste gesamtdeutsche Resultat der Sozialdemokraten seit dem Jahr 1890. Gravierend fiel auch der Vergleich zur letzten Bundestagswahl aus: Mindestens sechs Millionen Menschen, die vor drei Jahren ihr Kreuz bei der SPD gemacht hatten, wählten nun entweder gar nicht oder entschieden sich für eine andere Partei. Dass ein solcher Verlust von Wählerstimmen und dem damit einhergehendem Wählervertrauen nicht dauerhaft unkommentiert bleiben kann, hat Olaf Scholz in den Wochen nach der Wahl offenbar eingesehen und seine anfängliche Kommunikationsverweigerung inzwischen aufgegeben – allerdings nur in einem sehr formalen Sinn.
Wenn er auf Pressekonferenzen und bei Regierungserklärungen nun über mögliche Lehren aus der Niederlage seiner Partei spricht, dann hört man immer noch dasselbe »Nö« tönen – nur klingt es jetzt anders und ist besser versteckt. Es heißt dann etwa: Man dürfe einerseits »nicht einfach zur Tagesordnung übergehen«, müsse andererseits aber jetzt erst recht »seine Arbeit machen«; man solle sich aufgrund der Stimmgewinne rechtspopulistischer Parteien »Sorgen machen«, gleichzeitig gäbe es aber weiterhin »eine klare Mehrheit in Europa«, die den Status quo mitträgt; Krisen hätten zwar zugenommen und die Bevölkerung nehme das auch wahr, aber nun brauche es in erster Linie Zuversicht und in zweiter Linie weniger dramatisierende Kritik.1
Alles wird schlimmer – aber alles muss auch ungefähr so weiterlaufen, wie es jetzt läuft: So könnte man den sachlichen Kern dieser paradoxen Formulierungen zusammenfassen. Anders als bei anderen politischen Rhetoriken wird hier nicht versucht, einen miserablen Sachverhalt zu beschönigen oder ein offenkundiges Problem zu beschweigen, ja, dass die Lage der Dinge im Allgemeinen Sorge bereiten muss, wird sogar frei heraus zugestanden. Nur scheint die Konklusion, die daraufhin folgt, nicht zur Prämisse zu passen. Würde man erwarten, dass aus einer dramatischen Beschreibung der Situation auch eine dramatische Konsequenz gezogen wird, verspricht die Redeweise des Bundeskanzlers im Wesentlichen besonnene, vielleicht noch verstärkte Fortsetzung des Bisherigen. Diese Fähigkeit, eine rhetorische Brücke zwischen Problembeschreibung und Lösungsidee zu schlagen, obwohl beide himmelweit auseinanderklaffen, ist jedoch nicht auf das politische Spitzenpersonal beschränkt: Es handelt sich hier um ein generelles Merkmal des nun schon seit über einem Jahrzehnt blühenden Krisendiskurses, den liberale Demokraten zur Rettung der liberalen Demokratie mit sich selber führen.
Zunächst wird immer ein düsteres Bild gezeichnet. So beobachten etwa Armin Schäfer und Michael Zürn in ihrem vor drei Jahren erschienenen Buch eine »neue Welle demokratischer Regression«, bei der auch in etablierten Demokratien nicht mehr ausgemacht sei, dass sie sich in Zukunft durch faire und freie Wahlen, eine plurale Öffentlichkeit, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit auszeichnen würden. »War der Verfall der Demokratie lange Zeit etwas, das aus der Perspektive von Westeuropäerinnen nur in fernen Ländern stattfand, kommen die Einschläge nun näher.« Ursache hiervon sei eine »doppelte Entfremdung von der Demokratie«: Einerseits habe sich die »Distanz der demokratischen Praxis vom Ideal der kollektiven Selbstbestimmung« vergrößert, »weil Entscheidungen in nicht durch Wahlen legitimierte und kaum durch die Bürgerinnen kontrollierte Gremien verlagert werden« – etwa wenn Zentralbanken das wirtschaftspolitische Geschick bestimmen. Andererseits wenden sich auch immer mehr Bürger von der Demokratie ab, »weil sie sich nicht länger repräsentiert fühlen«. Sie haben den Eindruck, dass das demokratische Spiel gezinkt ist. Hier habe der »autoritäre Populismus« seinen Ursprung. Er profitiere davon, dass weite Teile der Bevölkerung diese »Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit« der Demokratie wahrnehmen und glauben, ihre Interessen nur gegen die etablierten Prozeduren durchsetzen zu können.
Aber wie ist dem Gebrechen abzuhelfen? Schäfer und Zürn diskutieren, wie viele andere Autoren dieses Genres, eine ganze Liste zweckdienlicher Antworten: Zunächst müsse man weiteren »technokratischen Versuchungen« widerstehen und wieder »den Bürgerinnen vertrauen« lernen, was mindestens bedeutet, demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht weiter zu beschränken. Nachdenken könnte man auch über sogenannte »Mini-Öffentlichkeiten«, also deliberative Bürgerversammlungen, die den etablierten Entscheidungsmechanismen an die Seite gestellt werden, während die Parteien versuchen sollten, unterrepräsentierte Bürger gezielt zu rekrutieren. Die nicht gewählten, aber überaus mächtigen Institutionen wie Zentralbanken müssten demokratischer werden, indem sie etwa in Umfragen »Bürger konsultieren«. Der Europawahl hingehen würde die Einführung eines diesmal auch durchzuhaltenden Spitzenkandidatenprinzips und die Transnationalisierung der Wahllisten weitere Legitimation verschaffen, womöglich könnte man auch europaweite Referenden in Aussicht stellen, bei denen allerdings »Verteilungsfragen« außen vor bleiben müssten. Schließlich würde auch mehr »kosmopolitische Leidenschaft« und ein wenig »Ambiguitätstoleranz«-Training in den Schulen nicht schaden. Denn: »Die Verteidigung der Demokratie erfordert mehr Demokratie.«2
Auffällig ist, dass das Autorenduo – analog zur Rhetorik des Kanzlers – in der Rolle des Kritikers in einer weitaus schärferen Tonlage spricht als in der Rolle des Politikberaters. Wurde auf beinahe zweihundert Seiten zuvor die fundamentale Gefahr beschworen, der liberale Demokratien gegenwärtig ausgesetzt sind, und ausführlich beschrieben, wie die Globalisierung seit den 1990er Jahren die majoritären Entscheidungsspielräume immer weiter verengt hat, bis es zum Ausbruch einer »Repräsentationskrise« kam, die nun ihr hässliches Gesicht zeigt, fällt das Endkapitel recht unaufgeregt aus. Ein paar Reförmchen hier und da, so lernt man auf den letzten Seiten, sind bedenkenswert, wenn man beabsichtigt, das Problem zumindest zu verkleinern. Die Krise scheint so einschneidend also nicht zu sein, dass nun grundsätzliche, strukturverändernde Entscheidungen diskutiert werden müssten.
Dieser seltsamen Anti-Dramaturgie, bei der kurioserweise auf die Beschreibung der Katastrophe ein retardierendes Moment folgt, gehorcht ein Großteil der Bücher, die in den vergangenen Jahren im Demokratierettungs-Genre erschienen sind: Der demokratische Verfassungsstaat befinde sich in einer tiefen Krise, womöglich sogar im »Sterben«; setzen müsse man nun auf lagerübergreifende Koalitionen, die sich schützend vor seine Institutionen stellen und eine umfangreichere Sozialpolitik betreiben (Levitsky und Ziblatt). Mit dem »Zerfall« der liberalen Demokratie sei zu rechnen – das naheliegende Mittel, ihn aufzuhalten, sei eine klügere Steuerpolitik und ein inklusiverer Patriotismus (Yascha Mounk). Die autoritäre Wende, die andere Länder bereits vollzogen haben, drohe nun auch den Vereinigten Staaten – höchste Zeit, dass man die Parteienfinanzierung in den Griff bekommt und womöglich ergänzend Bürgerräte einsetzt (Jan-Werner Müller). Selbst Colin Crouch, der seine Postdemokratie-These jüngst noch einmal bekräftigt hat, verweist nur vage auf mehr internationale Zusammenarbeit und bessere politische Bildung, um der Malaise zu entkommen.3
II.
Warum diese Diskrepanz? Woran liegt es, dass über ein Jahrzehnt Krisendiskurs, samt weiterhin andauerndem Ursachenforschen und Datensammeln, Zeitdiagnostizieren und Beschuldigen, die Asymmetrie zwischen Problembeschreibung und Antwortvorschlägen nicht wirklich hat beseitigen können? Alle der genannten Autoren konstatieren eine tiefgreifende Krise des Typus »liberale Demokratie«, die auf die eine oder andere Art mit den Folgen kultureller, ökonomischer und politischer Globalisierung zu tun hat, ohne aber daraus den Schluss zu ziehen, dass die grundlegenden Strukturelemente der globalisierten, liberalen Demokratie selbst infrage zu stellen wären. Sie soll – wie eh und je – wesentlich repräsentativ verfasst, grundrechtsbewährt und gerichtsüberwacht, marktwirtschaftlich organisiert und vor allem global verflochten sein, sich außerdem im politischen Mehrebenensystem weiter integrieren und eigentlich auch soziokulturell pluralisieren. Ihre Krise wird gesehen und von Wahl zu Wahl in noch dunkleren Farben gemalt, aber die diskutablen »Alternativen« bewegen sich, wenn sie nicht völlig abstrakt bleiben, nichtsdestotrotz weiterhin beinahe vollständig im Rahmen des Status quo.
Nun soll hier nicht behauptet werden, dass radikale Alternativen auf der Hand lägen oder eine offenkundige Antwort böten. Doch nach über einem Jahrzehnt Krisendiskurs könnte es sich lohnen, dessen politische Unbeirrbarkeit als eigenständiges zeitgeschichtliches Phänomen ernst zu nehmen und danach zu fragen, wie dieser Diskurs mit der Krise verstrickt ist, die er in vielen Formen und Varianten beschwört und letztlich überwinden will. Denn gerade unter modernen Bedingungen gilt, wenn man Reinhart Kosellecks begriffsgeschichtlicher Grundeinsicht folgt, dass die Kategorien, mit denen die Zeitgenossen ihre eigene Situation beschreiben, zugleich Faktoren des historischen Geschehens sind: Die Lage- und Selbsteinschätzungen der Akteure verändern das Spiel, das sie zu fassen versuchen. Philip Manow hat eine solche Historisierung jüngst für den allgemeinen Fall des Konzepts der »liberalen Demokratie« unternommen, das in den 1990er Jahren im Zuge weitreichender Verrechtlichung und Konstitutionalisierung zum Leitwert aufgestiegen ist und nun gegen den Angriff der Populisten verteidigt werden soll.4 Wie aber ist jene Alternativlosigkeit zu erklären, von der die Verteidiger der liberalen Demokratie weiterhin, trotz Krise und Krisenhäufung, überzeugt zu sein scheinen?
Christian Meier hat eine ähnliche Verstrickung von Krise und Krisendiskurs 1962 am Beispiel der Spätphase der römischen Republik beschrieben. In der Einführung zu einer späteren Auflage beschreibt der Historiker, wie ihm klar wurde, dass eigentlich nicht der Untergang der römischen Republik erklärungsbedürftig ist, sondern viel eher die Tatsache, dass sich dieser Untergang so lange hinzog. »Eine Bürgerschaft, die mit den nur leicht adjustierten Institutionen einer kleinen Gemeinde ein Weltreich regiert«, »Große Einzelne«, die einem eigentlich nicht vorgesehenen Berufsheer vorstehen und vom Senat umso erbitterter bekämpft werden, je mehr das Imperium auf sie angewiesen ist – warum führte die Sprengkraft dieser Situation gut hundert Jahre lang nicht dazu, dass das politische System sich grundlegend reformierte und wieder lebensfähig wurde?5
Meier entwickelt anhand des Handelns der verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Klassen – Bauern, städtischer Plebs, Ritter, Senat und Feldherren – das Modell eines krisengeplagten politischen Systems, das außerstande ist, die es bedrohenden Tendenzen in den Bereich des politisch Entscheidbaren zu überführen: Die wachsende Macht der Ritter war in die bestehenden Institutionen nicht mehr zu integrieren, weil sie aber ihre politischen Ansprüche vornehmlich zur Sicherung wirtschaftlicher Ziele nutzten, schufen sie auch keine neuen; die Landarmut der Bauern bot ein starkes Argument und mächtigen Rückhalt dafür, die Funktionsweise der Oligarchie zu stören, doch die Schwierigkeit, eine dauernde Präsenz dieser Schicht in der elitengeprägten Stadt zu garantieren, bewirkte, dass das Problem bloß eine Störung blieb – kein Beitrag zur Lösung wurde. Die Soldaten und Veteranen entwickelten zunehmend verfassungsinadäquate persönliche Loyalitäten zu ihrem Feldherrn, waren aber mit Kriegsbeute und Landversprechen immer wieder hinreichend zufriedenzustellen, so dass sie spät erst zum dauerhaften politischen Faktor aufstiegen; der urbane Plebs war für verfassungswidrige Einzelabstimmungen und als Schlägertrupp immer leichter zu gewinnen, aber aufgrund stabiler Klientelverhältnisse und kurzzeitiger Geschenke auch wieder zu beruhigen. Die »Großen Einzelnen« schließlich – von den Gracchen bis Cäsar – überschritten als faktische Regenten des Imperiums zunehmend das Comment der Senatorenschicht, konnten ihren persönlichen Standpunkt aber nie dauerhaft mit einer wirklichen »politischen Sache« verknüpfen, was den Senat nur dazu veranlasste, umso dogmatischer an den Formalia der alten Stadtverfassung festzuhalten und den Ehrgeiz Einzelner ängstlich auszubremsen.
»Krise ohne Alternative«, so lautet Meiers genialer Begriff für diese Konstellation, in der die Unwirklichkeit der bestehenden politischen Verfassung längst allgegenwärtig und spürbar ist, die sich akkumulierenden Krisentendenzen aber bloß negativ, bloß störend wirken, ohne eine bestimmte politische Alternative zu begünstigen. »Es geht im Zentrum um das Politische, dabei aber zugleich um dessen Krise, die gerade darin bestand, daß die eigentlichen Veränderungen politisch nicht einzufangen waren.« Das, was politisch kontrovers war, bildete einen immer kleineren Ausschnitt dessen, was politisch-sozial mutierte. Schließlich »überstieg es nicht nur die Kräfte dieser Gesellschaft, die Dynamik der Veränderungen in den Griff zu bekommen, sondern es war ihr auch unmöglich, sie zu erkennen. Der Senat stand sich selbst im Licht. Denn jeder erwartete von ihm die Lösung, und er wußte nichts Besseres als das Hergebrachte weiter zu praktizieren.« So machte sich »jenes Gemisch von borniertem Stolz und weichem Laisser-Aller, innerer Verhärtung und schlechtem Gewissen, Dickfelligkeit und dumpf-gereizter Resignation breit, das einzutreten pflegt, wenn eine Gesellschaft überfordert ist.«
Für Meier lag das Grundübel jener verlorenen, aber paradoxerweise immer noch bestehenden Republik darin, dass die in ihr agierenden Kräfte mit der gesellschaftlich-politischen Grundverfassung derart verwachsen waren, dass eine Alternative schlichtweg nicht reell vorstellbar war. »Auf diese Weise war diese Bürgerschaft ihre Ordnung, mit Haut und Haaren.« Man spürte, dass so wie ehedem nicht mehr regiert werden konnte, und ließ »die Ordnung« diese Unzufriedenheit auf vielfältige Weise spüren. Man handelte und dachte aber weiterhin so, als ob es kein Jenseits dieser ererbten republikanischen Verfassung gäbe, als müssten alle Spannungen, Konflikte und Krisen letztlich innerhalb ihrer Voraussetzungen gelöst werden – und verlängerte und vertiefte auf diesem Weg die Krise immer weiter.
III.
Modernen politischen Gemeinwesen kann man schwerlich vorwerfen, sie würden sich nicht beständig mit der Entwicklung ihrer selbst, konkurrierenden Deutungen ihres Zustands, den Begebenheiten ihrer Nachbarn und möglichen alternativen Zukünften befassen. Dass alles kontingent und darüber hinaus beschleunigtem Wandel ausgesetzt ist, dürfte zu den beliebtesten Phrasen heutiger Gesellschaftsbeobachtung gehören. Als Meier 2017 für die vierte Auflage von Res publica amissa ein neues Vorwort schrieb, drängten sich ihm die Parallelen zur Gegenwart dennoch auf: »Die Figur einer Krise ohne Alternative erscheint inzwischen nicht mehr so exotisch wie vor einem halben Jahrhundert.« Bei den ersten Veröffentlichungen seiner Studie hätte man teilweise noch in der Gewissheit gelebt, dass »Revolution« und »Reform« eigene Geschichtskräfte darstellen, die das Gemeinwesen beständig umarbeiten. »Heute erscheint da vieles sehr anders. Das römische Beispiel könnte an Aktualität gewinnen.« Überhandnehmende Störungen, dauerhafte Krisen, Unregierbarkeit – und doch nichts wesentlich Anderes in Sicht, ja, noch nicht einmal vorstell- und diskutierbar.
Die analoge Frage müsste also lauten: Wieso erscheint der gegenwärtige Krisendiskurs ebenso eng mit dem verwachsen, dessen Krise er beschreibt, obwohl die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Kontingenz und die politische Fantasie unendlich größer sein dürfte als vor zwei Jahrtausenden? Einigen Aufschluss bietet hier die historische Selbstverortung der genannten Autoren. In vielen Zeitbeobachtungen ist die Alternativlosigkeit der bestehenden, global integrierten liberalen Demokratie nämlich kein bug, sondern ein feature: Man ist sich zwar im Allgemeinen unsicher, wie die Republik gerettet werden könnte, aber überaus selbstgewiss, was nicht zum Tableau des politisch Möglichen gehört. »Wie können wir das Repräsentationsproblem lösen?«, fragt Michael Zürn etwa und präzisiert: »Wie können wir nichtmajoritäre Institutionen so reformieren, dass sie responsiver werden und weiterhin gute Ergebnisse in einer komplexen, globalisierten und pluralisierten Welt erzielen?« Wichtig ist, was diese Frage bereits voraussetzt: Die Welt ist »komplex«, »globalisiert« und »pluralisiert« – man kann nur Ergebnisse innerhalb ihres Rahmens produzieren. Denn: »Vereinfachte Lösungen, die darauf abzielen die institutionellen Grundlagen der Demokratie zu re-nationalisieren und homogenisieren, wie dies die autoritären Populisten fordern, greifen in einer globalisierten Welt zu kurz«.6
Diese Vorfestlegung ist kein Einzelfall. In einem Vortrag aus dem Jahr 2018 beschreibt etwa Rainer Forst das gegenwärtige »Bewusstwerden der Machtlosigkeit gegen die Prozesse der ›Globalisierung‹« und beklagt, man hätte im Westen »die Fähigkeit zu normativer Ordnungsbildung und Ordnungsvorstellung eingebüßt«. Nun sieht die Demokratie »sich Strukturen gegenüber, die sie nur noch hinnehmen zu müssen scheint«. Aber jede reale politische Richtung, die Souveränität zurückgewinnen will – über Grenzen oder Kapitalströme –, muss scheitern, »da sie eine nationale Lösung für ein globales Problem vorschlägt«. Helfen kann nur eine Transnationalisierung der Demokratie, aber das ist, wie der Redner selbst zugibt, »schon innerhalb Europas unendlich schwierig«, geschweige denn im globalen Maßstab wirklich vorstellbar.7
Die globalisierte, liberale Demokratie hat also die Kontrolle über sich selbst verloren, aber es ist ihr unmöglich, diese Kontrolle zurückzugewinnen: Unter diesem Axiom operiert ein Großteil des gegenwärtigen Krisendiskurses. Man führt auf seltsame Weise die Globalisierungsgeschichtsphilosophie der 1990er und 2000er Jahre fort – nur dass nun jede Euphorie daraus entschwunden ist. Zieht man die Freude über die Entwicklung ab, könnte sich ein Großteil der Autoren noch immer auf das Diktum Bill Clintons einigen, wonach die Globalisierung das »ökonomische Äquivalent natürlicher Kräfte ist, wie Wind oder Wasser«, oder zumindest auf die Antwort Tony Blairs aus dem Jahr 2005, als er Globalisierungskritikern entgegenschmetterte, man könne genauso gut darüber diskutieren, ob der Sommer auf den Frühling folgen sollte. Colin Crouch äußert sich, trotz all seiner Kritik am gegenwärtigen Weltzustand, in dieser Frage ganz offen: Der »Entschluss zur Ent-Globalisierung« und der »Abbruch vieler Wirtschaftsbeziehungen« könne nur »zu weiteren Verwerfungen« und Katastrophen führen. Eigentlich könne also die »Globalisierung nicht rückgängig« gemacht werden.8
Ungewollt sind viele der Zeitdiagnosen unerwartet fukuyamaesk: Die Kräfte des Weltmarkts und der damit einhergehenden kulturellen und politischen Liberalisierung sind mehr oder weniger unbezwingbar – nur will niemand mehr so richtig daran glauben, nicht einmal Fukuyama selbst,9 dass es in diesen globalisierten liberalen Demokratien besonders freudvoll, zufriedenstellend oder auch nur stabil zugehen wird. Das Hauptargument verschiebt sich infolge dieser geschichtsphilosophischen Prämisse und unter dem Eindruck der allgemeinen Krisentendenzen von der Exzellenz des Bestehenden zu seiner Alternativlosigkeit: Toll ist es nicht, aber jenseits der liberalen, repräsentativen, in den globalen Weltmarkt und internationale Organisationen eingebundenen Demokratie wartet nichts Geringeres als die Katastrophe. In diesem Sinne schreibt etwa Jan-Werner Müller, nachdem er sich zum Teil zustimmend mit zwei prominenten Kritikern des liberalen Zeitgeists auseinandergesetzt hat, dass man immerhin wüsste, dass die anderen Optionen unendlich viel schlimmer seien.10
Jene »Krise ohne Alternative«, an die sich Meier in Bezug auf die Gegenwart erinnert fühlte, liegt in dieser bestimmten Form der Geschichtsphilosophie begründet: Je bedrohlicher die Krise der globalisierten liberalen Demokratie, desto sicherer ist man sich in ihrer Mitte, dass es sich bei ihr um die relativ beste aller noch möglichen Welten handelt. Auch wenn ein bestimmtes Ausmaß globaler ökonomischer, politischer und kultureller Integration zunehmend selbstzerstörerisch wirkt, so weiß man doch, dass da größtenteils einfach nichts zu machen ist. Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Fragen, keine nationalen Antworten auf globale Probleme, kein Zurück hinter die Welt des 21. Jahrhunderts, obwohl die Fragen immer drängender, die Probleme immer gravierender und die Welt des 21. Jahrhunderts immer unhaltbarer erscheint.
Diese geschichtsphilosophischen Vorfestlegungen erfolgen jedoch nicht zufällig, sondern erfüllen eine politische Funktion. Sie kommt typischerweise immer dort zum Vorschein, wo auf die Aspirationen populistischer Bewegungen eine Antwort gefunden werden soll. Mit ihr kann man zeigen, dass, obwohl die Krisen überhandnehmen, alle politischen Bewegungen, die ein Jenseits dieser Form der global eingefassten liberalen Demokratie suchen, letztlich scheitern müssen, weil sie sich den notwendigen Imperativen der Zeit nicht zu stellen vermögen. Man kann mit ihr sogar Wahlen gewinnen – etwa wenn man darauf hinweist, dass vieles schlecht läuft in der Welt, aber ein Wahlsieg Le Pens oder Trumps die Dinge noch unendlich viel schlimmer machen würde. Dass man sich also lieber an das kleinere Übel halten sollte, an Parteien, die das Notwendige verkörpern und es fortverwalten, ohne alles aufs Spiel zu setzen. Mit Argumenten dieser Art werden in westlichen Demokratien immer öfter Wahlkämpfe geführt beziehungsweise Wahlniederlagen ignoriert, wie im Fall des Bundeskanzlers.
Aber wie lange trägt ein solches Argument? Kann man eine in die Krise geratene politische Ordnung dauerhaft verteidigen, indem man die Wählerschaft von ihrer geschichtlichen Alternativlosigkeit zu überzeugen versucht? Die jüngsten Wahlergebnisse in Frankreich legen nahe, dass eine solche Strategie nicht ewig aufgehen kann: Irgendwann fragen sich womöglich wachsende Teile des Elektorats, ob diese vermeintliche Alternativlosigkeit nicht eine Probe aufs Exempel verdient und die Geschichte nicht einen anderen Weg einschlagen könnte. Umgekehrt hat die ewige Wiederholung geschichtsphilosophischer Gewissheiten ungemeines Potential, diejenigen zu täuschen, die mit ihnen hantieren: Stets beschäftigt, sich von der Unausweichlichkeit einer bestimmten politisch-ökonomischen Formation zu überzeugen, übersieht man vielleicht offene Reformmöglichkeiten.
Könnten etwa bestimmte Formen der Deglobalisierung nicht dabei helfen, jene Standortkonkurrenz zu verringen, die seit über zwei Jahrzehnten als Argument gegen hohe Löhne, einen erweiterten Sozialstaat oder höhere Besteuerung verwandt wird? Muss eine demokratische Bürgerschaft nicht über das Ausmaß ihrer sozialkulturellen Pluralisierung politisch entscheiden können, ohne eingeredet zu bekommen, dass dies nun mal der Lauf der Welt wäre oder die Regeln des Europarechts es vorschreiben? Welche Wege gäbe es, hier und an anderen Stellen für mehr Spielraum zu sorgen, das heißt ins politisch Entscheidbare zu überführen, was – hört man auf den gegenwärtigen Krisendiskurs – angeblich unausweichlich, historisch alternativlos ist?
Die Gewissheiten, die man zur Abwehr der populistischen Gefahr – bislang sogar überwiegend erfolgreich – gebraucht, haben den Charakter einer Selbsttäuschung. Sie lassen politische Optionen verschwinden, die zu erwägen wären, wenn man Antworten auf die sich zuspitzende Repräsentationskrise liberaler Demokratien sucht. Doch diese Seite des Problems rückt notwendigerweise in den Hintergrund, je mehr sich die Gefährdung des politischen Systems aufdrängt. Wer macht sich schon über alternative Zukünfte Gedanken, wenn man die Behauptung fester Zukunftsverläufe braucht, um die Aspirationen des politischen Gegners zu entkräften? Sollte eines Tages diese defensive Logik die Befragung der eigenen Gewissheiten gänzlich verdrängt haben, dann wäre die vorherrschende Krise wirklich alternativlos geworden. Nicht, wie noch in Meiers Fall, weil man sich von der hergebrachten Ordnung geistig nicht hat lösen können. Sondern weil man sie nur verteidigen zu können glaubte, indem man umso kräftiger an ihrer geschichtsphilosophischen Dignität festhielt.
Anmerkungen
So der Bundeskanzler bei einem Pressestatement am 10. Juni und im Zuge seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 26. Juni 2024.
Armin Schäfer /Michael Zürn, Die demokratische Regression. Berlin: Suhrkamp 2021.
Vgl. Dirk Jörke, Liberale Demokratietheorie in der Krise. In: Neue Politische Literatur, Nr. 67, 2022.
Philip Manow, Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Freunde. Berlin: Suhrkamp 2024.
Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik. Stuttgart: Franz Steiner 2017.
Michael Zürn, Globalisierung und demokratische Regression. In: Ralf Fücks /Rainald Manthe (Hrsg.), Liberalismus neu denken. Freiheitliche Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Bielefeld: transcript 2022.
Rainer Forst, Die Demokratie zerfällt in zwei Hälften. Vortrag am 3. November 2018 im Rahmen der 46. Römerberggespräche in Frankfurt (aktuelles.uni-frankfurt.de/gesellschaft/die-demokratie-zerfaellt-in-zwei-haelften-ein-beitrag-von-prof-rainer-forst/).
Colin Crouch, Postdemokratie revisited. Aus dem Englischen von Frank Jakubzik. Berlin: Suhrkamp 2021.
Francis Fukuyama, Boredom at the End of History, Part I. In: American Purpose vom 28. Mai 2024 (www.americanpurpose.com/articles/boredom-at-the-end-of-history-part-i/).
Jan-Werner Müller, Die Dauerkrise des Liberalismus. In: Project Syndicate vom 5. Januar 2024 (www.project-syndicate.org/onpoint/opponents-and-defenders-of-political-liberalism-by-jan-werner-mueller-2024-01/german).
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.