Heft 874, März 2022

Die politische Geografie der Bundestagswahl

von Lukas Haffert

Wenn an einem deutschen Wahlsonntag um 18 Uhr die Prognose veröffentlicht wird, wachsen auf den Studiobildschirmen der Fernsehsender Balken in die Höhe oder stürzen in die Tiefe. Ob es um das Wahlergebnis, die Gewinne und Verluste der Parteien oder die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler in der Kanzler- und der Koalitionsfrage geht – auf fast alle Fragen hat Jörg Schönenborn die Antwort in Form eines Balkendiagramms. Nur die Sitzverteilung wird üblicherweise in der Form einer Bundestagstorte präsentiert.

Der Balken ist die natürliche Darstellungsform des Verhältniswahlrechts, in dem es einzig und allein darauf ankommt, wie viele Stimmen eine Partei erhält. Wo diese Stimmen abgegeben wurden – ob im Norden oder im Süden, in Städten oder auf dem Land –, spielt keine Rolle. Ganz anders dagegen das Mehrheitswahlrecht, in dem es entscheidend auf die Geografie der Stimmverteilung ankommt, weil es nicht darum geht, die Mehrheit der Stimmen, sondern die Mehrheit der Wahlkreise oder Bundesstaaten zu gewinnen. Im Mittelpunkt einer amerikanischen Wahlnacht stehen deshalb Landkarten, in die John King, CNNs spätestens seit dem Auszählmarathon im November 2020 ikonischer Zampano der Zahlen, in irrwitziger Geschwindigkeit herein- und wieder herauszoomt, immer mit der Frage: Wo sind die Stimmen bereits ausgezählt und wo noch nicht? So lernt auch der landesfremde Zuschauer schnell, dass sich die Präsidentschaftswahl in Maricopa County (Phoenix), Wayne County (Detroit) oder Allegheny County (Pittsburgh) entscheidet.

Trotz des unterschiedlichen Wahlsystems gewinnen geografische Darstellungen von Politik aber auch hierzulande an Popularität. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist der enorme Erfolg von Katapult, dem Greifswalder »Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaft«, das mit seinen Kartendarstellungen sozialer Phänomene mittlerweile eine sechsstellige Auflage erzielt. Doch auch in etablierten Medien werden seit einigen Jahren immer häufiger Landkarten eingesetzt, um etwa das Ost-West-Gefälle in den Ergebnissen der AfD zu illustrieren. Nach Wahlsonntagen publizieren immer mehr Medien digitale Kartenangebote, auf denen man das Wahlergebnis bis auf die Ebene des Häuserblocks herunterbrechen kann: So also hat mein Stadtteil, haben meine Nachbarn abgestimmt. Vor der Bundestagswahl 2021 wurden Wahlkreisprognosen, die versuchten, das Erststimmenergebnis auf Wahlkreisebene vorherzusagen, immer beliebter. Und nach der Wahl wurden in den sozialen Medien tausendfach Karten geteilt, auf denen sich der Norden der Republik rot, der Süden hingegen schwarz färbte – mit kleineren grünen Punkten in westdeutschen Universitätsstädten und einer großen blauen Fläche in Sachsen und Thüringen. Der Reiz dieser Kartendarstellungen liegt dabei nicht zuletzt darin, dass sie oft schon eine Erklärung oder Interpretation des abgebildeten Phänomens nahezulegen scheinen. Erkennt man in der Karte der Wahlkreissieger nicht die früheren preußischen Grenzen? Und sieht nicht bereits das bloße Auge die räumliche Korrelation zwischen Corona-Inzidenzen und AfD-Ergebnissen?

Dieses wachsende Interesse an der Geografie der deutschen Politik dürfte kein Zufall sein. Es entspricht der wachsenden Bedeutung geografischer Konflikte im deutschen politischen System. Deutschland schien lange ein Land zu sein, in dem der Gegensatz zwischen urbanen Zentren und ländlicher Peripherie keine besonders große Bedeutung hat. Denn die strukturellen Entwicklungstendenzen, die diesem Konflikt zugrunde liegen, waren hier lange nicht sehr ausgeprägt. Im Vergleich zu den finanzialisierten Ökonomien Großbritanniens und der USA steht im Zentrum des deutschen Wirtschaftsmodells nach wie vor eine starke industrielle Basis. Die »Hidden Champions« der deutschen Exportindustrie sind aber oft gerade nicht in großen Städten zuhause, sondern in Ostwestfalen, Niederbayern oder auf der schwäbischen Alb.

Zudem ist die deutsche Politik stark auf das Ziel ausgerichtet, ein wirtschaftliches Auseinanderdriften unterschiedlicher Regionen zu verhindern. So ermächtigt Artikel 72 des Grundgesetzes den Bund explizit, zum Zweck der »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet« gesetzgeberisch tätig zu werden – und weckt damit die Erwartung, dass er das auch tut. Ohnehin sollte der Föderalismus die Entwicklung von Stadt-Land-Unterschieden bremsen, weil er der Neigung, alles auf eine Metropole wie Paris oder London zu konzentrieren, entgegensteht. Schließlich gibt das Verhältniswahlrecht Parteien einen starken Anreiz, sich um alle Regionen des Landes zu kümmern, statt sich nur auf ihre Hochburgen zu konzentrieren: Jede Stimme, egal wo sie abgegeben wird, zählt für eine Partei gleich viel.

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