Heft 866, Juli 2021

Warum im deutschen Wahlsystem die Städte überrepräsentiert sind

von Lukas Haffert

Einmal mehr hat die amerikanische Präsidentschaftswahl im vergangenen November den tiefen Stadt-Land-Graben offengelegt, der das politische System der Vereinigten Staaten durchzieht. Dieser Graben prägt nicht bloß das Verhalten der Wähler – Städter wählen demokratisch, Landbewohner die Republikaner –, sondern ist tief in den politischen Institutionen des Landes verankert. So hing der Sieg Joe Bidens trotz eines landesweiten Vorsprungs von mehr als sieben Millionen Stimmen an wenigen zehntausend Stimmen in einzelnen Staaten, weil die geografische Verteilung der republikanischen Wähler ihnen im Electoral College einen erheblichen Vorteil verschafft. Noch viel ausgeprägter ist dieser Effekt im Senat: Hier kann sich Biden nur auf die knappste denkbare Mehrheit, die ein Patt brechende Stimme der Vizepräsidentin, stützen, weil dünnbesiedelte Staaten wie Wyoming ebenso zwei Senatoren stellen wie die urbanen Staaten an den Küsten. Städte sind im politischen System der USA strukturell benachteiligt.

Im deutschen politischen System scheint eine solche systematische Ungleichrepräsentation von Stadt und Land kein Thema zu sein. Zwar sind auch in Deutschland die kleineren Gliedstaaten in der zweiten Kammer massiv überrepräsentiert, aber faktisch spielt das nur sehr selten eine Rolle, weil die Koalitionsbildung in den Ländern kaum systematisch mit der Größe der Länder zusammenhängt. Wichtiger ist ohnehin der Bundestag, und bei dessen Wahl zählt jede Stimme gleich viel, egal wo sie abgegeben wird.1 Das Bundestagswahlrecht legt sogar ein besonderes Augenmerk darauf, ein Höchstmaß geografischer Proportionalität sicherzustellen. So garantieren die Direktmandate, dass alle Bundesbürger von mindestens einem ihnen direkt zugeordneten Abgeordneten vertreten werden. Darüber hinaus sorgt die Verteilung der Listenmandate über Landeslisten dafür, dass auch die Bundesländer gleichmäßig repräsentiert sind.

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