Heft 882, November 2022

Dumme Bedeutung

Künstliche Intelligenz und artifizielle Semantik von Hannes Bajohr

Künstliche Intelligenz und artifizielle Semantik

Im Juni 2022 wurde der Google-Ingenieur Blake Lemoine von seinem Arbeitgeber auf unbestimmte Zeit freigestellt, weil er meinte, die Künstliche Intelligenz, an deren Testphase er mitarbeitete, verfüge über Bewusstsein.1 Das Chatbot-System LAMDA (Language Model for Dialogue Applications) habe ihn in langen Gesprächen davon überzeugt, dass es die Intelligenz eines hochbegabten Achtjährigen besitze, und darum gebeten, als Person mit Rechten betrachtet zu werden.2 Lemoine, der sich selbst als »mystischen Christen und ordinierten Priester« bezeichnet, überspitzte dabei nur eine Stimmung, die auch andere Google-Mitarbeiter befiel. Blaise Agüera y Arcas, leitender Ingenieur für Machine Learning und für gewöhnlich frei von allem Mystikverdacht, schrieb nur wenige Tage vor Lemoine über seine Interaktionen mit LAMDA: »Ich hatte das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen würde zu schwanken beginnen. Mein Eindruck war immer mehr, mit etwas zu sprechen, das Intelligenz besitzt.«3

Ganz ohne die Schlagwörter von Bewusstsein und Intelligenz kam dagegen eine etwa zeitgleich verlaufende Diskussion um ein anderes KI-System aus. Dall·E 2, das von der Firma OpenAI veröffentlicht wurde, ist eine text-to-image AI und kann aus natürlichsprachigen Eingaben Bilder generieren. Gibt man ihm etwa den Prompt: »Ein Shiba-Inu, der ein Beret und einen schwarzen Rollkragenpullover trägt«, zeigt das Ausgabebild anschließend eben diese Szene.4 Die öffentliche Beta-Version, bei der Schritt für Schritt immer mehr User teilnehmen konnten, löste ein wildes Experimentieren aus, und bald wurden die interessantesten oder wunderlichsten Ergebnisse im Netz und vor allem auf Twitter geteilt.

Auch das war aufschlussreich und bestätigte angesichts der bislang nur wenig erfolgreichen Versuche mit autonomen Autos unter anderem den Eindruck, dass KI deutlich andere gesellschaftliche Auswirkungen haben dürfte als lange gedacht – etwa indem sie vor Lasterfahrern eher Illustratoren, Grafikern und Symbolbildagenturen ihren Job streitig machen könnte.5 Doch anders als bei LAMDA kam kaum jemand auf die Idee, Dall·E 2 für eine Person mit Rechten zu halten.

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