Heft 867, August 2021

Eine unheimliche Überschneidung

Hannah Arendt und Philip Roth von Corey Robin

Hannah Arendt und Philip Roth

Die Schriftstellerin Lisa Scottoline veröffentlichte 2014 einen aufschlussreichen Essay in der New York Times über zwei Seminare, die sie in den 1970er Jahren an der University of Pennsylvania bei Philip Roth belegt hatte. Eines davon befasste sich mit der Literatur des Holocaust, auf der Lektüreliste stand Hannah Arendt.

Auf den fünf Seiten, die der Roth-Biograf Blake Bailey dessen Jahren an der Penn widmet, erwähnt er weder diesen Kurs noch erwähnt er Arendt. Er konzentriert sich auf den zweiten Kurs mit dem Titel »Die Literatur des Begehrens« und hebt dabei vor allem auf Roths erotische Präsenz innerhalb und außerhalb des Seminarraums ab. Nach den Vorwürfen sexueller Übergriffigkeit und unangemessenen Verhaltens, die gegen Bailey selbst erhoben wurden, mag es als kleinkariert erscheinen, auf diese Auslassung hinzuweisen. Aber sie ist nun einmal bezeichnend. Wie Judith Shulevitz in einer gründlichen Analyse des Buchs und der gegen den Autor erhobenen Anschuldigungen ausführt, ist Bailey, wenn es um das Judentum geht, ebenso unaufmerksam wie beim Thema Frauen. Kommen beide Faktoren in der Gestalt von Hannah Arendt zusammen, geht sein Interesse anscheinend, nun ja, gegen Null. Damit aber ist das Leben, das er in der Biografie beschreibt, einer seiner vitalen Quellen beraubt. Arendt war für Roth eine reale Präsenz. Die erstaunliche Konvergenz zwischen den Lebensläufen beider und auch ihren Anliegen, insbesondere in Bezug auf jüdische Fragen, ist so wundersam wie die Figur des Doppelgängers, die in vielen Romanen Roths ihr Unwesen treibt.

Die Unterschiede zwischen den beiden Schriftstellern liegen hingegen auf der Hand. Sie wurde 1906 in Deutschland geboren; er kam 1933 in Newark zur Welt. Sie floh vor Hitler und blickte nie zurück; er floh vor seinen Eltern und kam immer wieder nach Hause. Sie schrieb Vita activa oder Vom tätigen Leben, er Portnoys Beschwerden. Doch während viele Juden in den USA nach dem Krieg Karriere machten und als Schriftsteller und Wissenschaftler Anklang fanden, stachen Arendt und Roth dadurch hervor, dass sie nicht nur die beschauliche Zeitungslandschaft aufmischten, sondern die Juden selbst gegen sich aufbrachten. Sowohl Roth als auch Arendt zogen den angsterfüllten Zorn einer immer noch verletzlichen Gemeinschaft auf sich und besetzten so eine einzigartige Position: Sie verteidigten die Randständigen gegen die Ausgegrenzten und verweigerten sich dem politischen Sog und der moralischen Überforderung, die einer umkämpften Minderheit leicht gefährlich werden können. Heute, in einer Zeit des aufflammenden Antisemitismus und der zunehmenden Polarisierung, in der selbst unter Schriftstellern und Intellektuellen die Tendenz besteht, zugunsten einer Verteidigung von Ihresgleichen die Schotten dicht zu machen, lohnt sich ein erneuter Blick in den Briefwechsel der beiden Intellektuellen, zweier Außenseiter unter Außenseitern.

Dass wir überhaupt von diesem Gemeinschaftsarchiv wissen, verdanken wir der Arbeit eines anderen Roth-Biografen, Ira Nadel, und einem wenig beachteten Artikel aus dem Jahr 2018. Die Geschichte beginnt im August 1963, als der Princeton-Soziologe Melvin Tumin sich in einem Brief an Roth darüber mokiert, dass Roth Arendts im Frühjahr desselben Jahres im New Yorker erschienenen Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann »gut fand«. Roths Respekt für Eichmann in Jerusalem scheint über die Jahre nicht verblasst zu sein. Die Autorin Lisa Halliday verarbeitete 2018 eine Beziehung, die sie als Mittzwanzigerin mit dem sehr viel älteren Roth unterhalten hatte, in ihrem Buch Asymmetrie zu einer fiktionalisierten Geschichte. Im ersten Abschnitt des Romans, der vor dem Hintergrund des Irakkriegs spielt, sagt die Roth-Figur zur Halliday-Figur: »Wenn du etwas über den Holocaust erfahren willst, zeige ich dir, was du lesen solltest.« Eines der drei Bücher, die er empfiehlt, ist Eichmann in Jerusalem.

Eichmann in Jerusalem löste bei seinem Erscheinen einen Sturm der Empörung aus. Wegen ihrer angeblichen Verharmlosung von Eichmanns Antisemitismus und ihrer Kritik an jüdischen Verantwortlichen, die mit den Nazis kooperiert hatten, wurde Arendt als Komplizin der Antisemiten und Feindin der Juden diffamiert. In den Augen ihrer Kritiker hatte Arendt nicht nur ein schlechtes Buch geschrieben; sie hatte ihren schlechten Charakter offenbart. Sie war eine Vollidiotin und eine Verbrecherin – herzlos, eitel, bösartig, niederträchtig, grausam. Die Kampagne gegen sie erstreckte sich von der Anti-Defamation League und dem Jüdischen Weltkongress bis zur New York Times und sogar zur Partisan Review, für die sie lange Zeit Beiträge geschrieben hatte.Wie wild es in der Kontroverse zuging, zeigen die metaphorischen Register, die dabei gezogen wurden: Ihre Verbündeten verglichen die Debatte mit einem Pogrom, ihre Gegner mit einem Bürgerkrieg.

Wir wissen nicht, was Roth hinzog zu Arendts Schriften über Eichmann, aber wir wissen, dass die Frage nach der jüdischen Kollaboration mit den Nazis auch ihn umtrieb. Das »moralische Entsetzen weckte meine Fantasie«, sagte er. 1959 schrieb Roth ein Fernsehspiel für NBC mit dem Titel A Coffin in Egypt. Inspirieren ließ er sich dabei von Jacob Gens, dem Vorsitzenden des Judenrats im Ghetto Wilna, den die Nazis beauftragt hatten, monatlich tausend Juden für die Vernichtungslager auszuwählen. Laut Bailey schrieb Roth drei Entwürfe für das Drehbuch. Er stellte sich Montgomery Clift für die Rolle der Gens-Figur vor, der er den Namen Solomon Kessler gab. NBC zahlte Roth viertausend Dollar, entschied sich aber, die Produktion nicht weiterzuverfolgen. Das Stück, das für NBCs »Sunday Showcase« vorgesehen war, würde sich im Quotenkrieg mit dem Sender CBS niemals gegen die Ed Sullivan Show behaupten können. Das Material war zu brisant.

Das Grauen der Kollaboration bestand für Roth und Arendt nicht einfach darin, dass die jüdischen Anführer gezwungen wurden, über Leben und Tod zu entscheiden; es war die Art und Weise, wie diese Verantwortlichen ihre Macht in ein biblisches Gewand hüllten und sie mit religiöser Bedeutung aufluden. Chaim Rumkowski, Vorsitzender des Judenrats im Ghetto Łódź, stilisierte sich Arendt zufolge als alter jüdischer König. Die Leute nannten ihn Chaim I. Er »gab Geldscheine mit seiner Unterschrift und Briefmarken mit seinem Porträt heraus«. 1942, als die Deutschen verlangten, dass die Kinder des Ghettos für die Deportation vorbereitet werden sollten, wies Rumkowski deren Eltern an: »Übergebt sie mir! Väter und Mütter: Gebt mir eure Kinder!« In Roths Drehbuch führt Kessler zusammen mit einem Rabbiner einen talmudischen Dialog mit einem älteren Juden, den Kessler zur Deportation ausgewählt hat: »Kessler: ›He du! In den Zug! …‹ Alter Mann: ›Was habe ich denn getan? Warum?‹ Kessler: ›Ich weiß nicht, was du getan hast! Du hast ein Leben gelebt. Komm schon! Komm schon! …‹ Alter Mann: ›Ich bin achtundsiebzig. Rabbi, wer lässt sich schon gern an einem fremden Ort begraben …‹ Rabbi: ›Josef starb, als er hundertzehn Jahre alt war. Und sie salbten ihn und legten ihn in einen Sarg in Ägypten. Erinnern Sie sich? Josef höchstpersönlich. Josef selbst musste warten, bis seine Söhne kamen, um seine Gebeine in die Heimat zu tragen.‹ Alter Mann: ›Ich bin nicht Josef, Rabbi. Ich bin ich.‹«

Als klar ist, dass sich die Juden an Kessler für seine Kollaboration rächen könnten, sagt ein Nazi zu ihm: »Es gibt eine Theorie von Freud, Solomon, dass die Juden selbst Moses getötet haben. Nun, Sie sind ihr Moses gewesen, ihr Erlöser.«

Dank der Entscheidung von NBC blieb Roth die öffentliche Ächtung durch das jüdische Establishment erspart. Doch handelte es sich nur um eine Gnadenfrist. Wie Arendt schrieb er schließlich einen Text für den New Yorker, der die jüdische Gemeinde in Aufruhr versetzte. Die Kurzgeschichte Verteidiger des Glaubens erschien im März 1959 in der Zeitschrift und wurde zudem in Roths preisgekrönte Geschichtensammlung Goodbye, Columbus aufgenommen, die noch im selben Jahr herauskam. Während es in A Coffin in Egypt um die jüdische Kollaboration ging, macht Verteidiger des Glaubens die Ausbeutung jüdischer Solidarität zum Gegenstand. Auch das war ein Arendt’sches Thema: Eichmann in Jerusalem beginnt mit einer vernichtenden Sequenz darüber, wie David Ben-Gurion den Eichmann-Prozess, den Holocaust und die vermeintlich immerwährende Bedrohung durch den Antisemitismus benutzte, um ein »jüdisches Bewusstsein« und internationale Unterstützung für den israelischen Staat aufzubauen. Verteidiger des Glaubens spielt in einer Ausbildungskaserne in Missouri während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs, nach der Niederlage Deutschlands, aber vor der Kapitulation Japans. Ein jüdischer Wehrpflichtiger macht seinem jüdischen Feldwebel falsche Andeutungen über ein Verwandtschaftsverhältnis und versieht diese mit Verweisen auf Hitler und Antisemitismus – alles nur, um besondere Privilegien zu erlangen und schließlich vom Kampf im Pazifik befreit zu werden. Beide Texte, Eichmann in Jerusalem und Verteidiger des Glaubens, setzen sich mit der Gefahr auseinander, dass Juden sich selbst und ihre Werte durch die Manipulation jüdischer Loyalität verraten können. In den falschen Händen kann Solidarität genauso verhängnisvoll sein wie Kollaboration.

Roths Fenstersturz erfolgte 1962 auf einem Podium an der Yeshiva University, Arendt fiel 1964 in Ungnade, und zwar auf der West 43rd Street. (Irving Howe, der zu einer öffentlichen Debatte über Eichmann in Jerusalem eingeladen hatte, meint sich zu erinnern, dass diese im Hotel Diplomat stattfand; der Princeton-Historiker Anson Rabinbach behauptet, sie habe in der Town Hall stattgefunden.) In der Partisan Review schrieb ein Autor, dem daran gelegen war, die Art und Weise, wie mit Arendt umgesprungen wurde, zu verteidigen, dass es ihr »keineswegs schlechter ergeht als anderen Kritikern der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft – Philip Roth zum Beispiel«. Wie diese Behandlung aussah, beschrieb Jahre später Judith Thurman: »[Verteidiger des Glaubens] löste eine heftige Reaktion in bestimmten Kreisen des jüdischen Establishments aus. Roth wurde als ein im Selbsthass versunkener Jude und als Verräter seines Volkes verunglimpft, der seinen Feinden Munition lieferte, indem er, wie es schien, entwürdigende Stereotypen verbreitete […] Diverse Rabbiner prangerten Roth von ihren Kanzeln herab an, und ein führender Pädagoge der Yeshiva University schrieb an die Anti-Defamation League und fragte: ›Was wird getan, um diesen Mann zum Schweigen zu bringen? Im Mittelalter hätten Juden gewusst, was mit ihm zu tun ist.‹«

Nach der Veröffentlichung von Portnoys Beschwerden im Jahr 1969 wurde Roth von demselben heiligen Triumvirat gebrandmarkt, das Arendt wegen Eichmann in Jerusalem an den Pranger gestellt hatte: Gershom Scholem, Irving Howe und Norman Podhoretz.

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