Eine unheimliche Überschneidung
Hannah Arendt und Philip Roth von Corey RobinDie Schriftstellerin Lisa Scottoline veröffentlichte 2014 einen aufschlussreichen Essay in der New York Times über zwei Seminare, die sie in den 1970er Jahren an der University of Pennsylvania bei Philip Roth belegt hatte. Eines davon befasste sich mit der Literatur des Holocaust, auf der Lektüreliste stand Hannah Arendt.
Auf den fünf Seiten, die der Roth-Biograf Blake Bailey dessen Jahren an der Penn widmet, erwähnt er weder diesen Kurs noch erwähnt er Arendt.1 Er konzentriert sich auf den zweiten Kurs mit dem Titel »Die Literatur des Begehrens« und hebt dabei vor allem auf Roths erotische Präsenz innerhalb und außerhalb des Seminarraums ab. Nach den Vorwürfen sexueller Übergriffigkeit und unangemessenen Verhaltens, die gegen Bailey selbst erhoben wurden, mag es als kleinkariert erscheinen, auf diese Auslassung hinzuweisen. Aber sie ist nun einmal bezeichnend. Wie Judith Shulevitz in einer gründlichen Analyse des Buchs und der gegen den Autor erhobenen Anschuldigungen ausführt, ist Bailey, wenn es um das Judentum geht, ebenso unaufmerksam wie beim Thema Frauen.2 Kommen beide Faktoren in der Gestalt von Hannah Arendt zusammen, geht sein Interesse anscheinend, nun ja, gegen Null. Damit aber ist das Leben, das er in der Biografie beschreibt, einer seiner vitalen Quellen beraubt. Arendt war für Roth eine reale Präsenz. Die erstaunliche Konvergenz zwischen den Lebensläufen beider und auch ihren Anliegen, insbesondere in Bezug auf jüdische Fragen, ist so wundersam wie die Figur des Doppelgängers, die in vielen Romanen Roths ihr Unwesen treibt.
Die Unterschiede zwischen den beiden Schriftstellern liegen hingegen auf der Hand. Sie wurde 1906 in Deutschland geboren; er kam 1933 in Newark zur Welt. Sie floh vor Hitler und blickte nie zurück; er floh vor seinen Eltern und kam immer wieder nach Hause. Sie schrieb Vita activa oder Vom tätigen Leben, er Portnoys Beschwerden. Doch während viele Juden in den USA nach dem Krieg Karriere machten und als Schriftsteller und Wissenschaftler Anklang fanden, stachen Arendt und Roth dadurch hervor, dass sie nicht nur die beschauliche Zeitungslandschaft aufmischten, sondern die Juden selbst gegen sich aufbrachten. Sowohl Roth als auch Arendt zogen den angsterfüllten Zorn einer immer noch verletzlichen Gemeinschaft auf sich und besetzten so eine einzigartige Position: Sie verteidigten die Randständigen gegen die Ausgegrenzten und verweigerten sich dem politischen Sog und der moralischen Überforderung, die einer umkämpften Minderheit leicht gefährlich werden können. Heute, in einer Zeit des aufflammenden Antisemitismus und der zunehmenden Polarisierung, in der selbst unter Schriftstellern und Intellektuellen die Tendenz besteht, zugunsten einer Verteidigung von Ihresgleichen die Schotten dicht zu machen, lohnt sich ein erneuter Blick in den Briefwechsel der beiden Intellektuellen, zweier Außenseiter unter Außenseitern.
Dass wir überhaupt von diesem Gemeinschaftsarchiv wissen, verdanken wir der Arbeit eines anderen Roth-Biografen, Ira Nadel, und einem wenig beachteten Artikel aus dem Jahr 2018. Die Geschichte beginnt im August 1963, als der Princeton-Soziologe Melvin Tumin sich in einem Brief an Roth darüber mokiert, dass Roth Arendts im Frühjahr desselben Jahres im New Yorker erschienenen Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann »gut fand«. Roths Respekt für Eichmann in Jerusalem scheint über die Jahre nicht verblasst zu sein. Die Autorin Lisa Halliday verarbeitete 2018 eine Beziehung, die sie als Mittzwanzigerin mit dem sehr viel älteren Roth unterhalten hatte, in ihrem Buch Asymmetrie zu einer fiktionalisierten Geschichte. Im ersten Abschnitt des Romans, der vor dem Hintergrund des Irakkriegs spielt, sagt die Roth-Figur zur Halliday-Figur: »Wenn du etwas über den Holocaust erfahren willst, zeige ich dir, was du lesen solltest.« Eines der drei Bücher, die er empfiehlt, ist Eichmann in Jerusalem.