Heft 864, Mai 2021

Eingesperrt: der Groll

von Sighard Neckel

»Ich bin alt genug, ich weiß, was hier los ist. Ich hab’s in der DDR gemerkt, wie sie alles verdreht haben, und hier wird genauso wieder verdreht. Das Volk hier unten, das interessiert die gar nicht. Jetzt auf einmal werden sie munter – au!

›Wir sind das Volk‹, jetzt hören sie das.«1

Wetterleuchten

Als ob eine Brandung schwere Steine auf einen kiesigen Strand rollt, hebt der Donnergroll aus der Ferne dumpf und drohend an, Vorbote eines Gewitters, das sich bald entladen wird. In den dunklen Wolken, die das Unwetter aufziehen lässt, baut sich eine enorme elektrische Spannung auf, die im Blitz schlagartig zu Boden fährt. Augenblicklich heizt er die Luft um sich herum auf, eine Druckwelle entsteht, deren Echo uns als gewaltiges Donnern erreicht.

Die Plasmaphysik erkennt im Donnergrollen den Vorboten einer plötzlichen Temperaturerhöhung, die Materie auflädt und in einen anderen Aggregatszustand versetzt. Das Grollen, das dem aufkommenden Donner die dunkle, dumpfe, unheilverkündende Tonspur verleiht, ist ein im Innern schwelender Zustand, der nichts Gutes verheißt. Im Deutschen steht »Groll«, so weiß es der Duden, für heimliche, eingewurzelte Feindschaft oder verborgenen Hass, für einen zurückgestauten Unwillen, der durch innere oder äußere Widerstände daran gehindert ist, sich nach außen zu wenden.

Dem Grollen kommt dabei eine spezifische Tonalität zu: Murren, grummeln und brummen sind die dunklen Klangfarben des Grolls, die auch im Englischen »to grudge« oder »to grumble« vernehmbar sind. Für seine in sich verkrampfte Natur hat das ältere Deutsch auch den »Grimm« und den »Ingrimm« verwendet. Dass das Bauchgrimmen einen bedeutungsnahen Zustand bezeichnet, verführte im 18. Jahrhundert manchen Sprachforscher zu Fehlschlüssen, was die etymologische Ableitung des Grollens betrifft. Jedenfalls kritisiert das erste wissenschaftliche Wörterbuch der deutschen Sprache, das Johann Christoph Adelung 1796 verfasste: »Frisch hatte den seltsamen Einfall, es von dem Rollen der Winde im Bauche abstammen zu lassen, die er für ein stattliches Gleichniß der heimlichen Feindschaft hält.«2

Morphologisch

Heute stimmt die Sprachforschung darin überein, dass das Substantiv »Groll« vermutlich aus dem mittelhochdeutschen Adjektiv grel gebildet wurde, das für »rau« und »zornig« stand. Tatsächlich ist der Groll des Zorns verschwiegener Bruder, nach innen gekehrt und passiv, während das affektive Geschwister seine Erregung aktiv nach außen richtet. Einen Groll gegen jemanden zu hegen spielt sich im Verborgenen ab. Daher ist er nicht leicht zu erkennen und noch schwerer zu überwinden.

Der Groll ist eine tiefverwurzelte Emotion. Lange schon trägt er Ärger, Verdruss, eine tiefe Abneigung oder stillen Hass mit sich herum. Im Gefühlshaushalt eines Menschen ist er ein dauernder Gast. Zorn oder auch die Empörung haben ihre jeweiligen Anlässe und ihr bestimmtes Objekt. Laut, heiß und eruptiv bringen sie sich zu Gehör. Hat man das Unrecht, das einem widerfuhr, aber einmal hinausgeschrien, können Zorn und Empörung auch wieder verfliegen. Demgegenüber schwelt Groll beständig unter der Oberfläche des Verhaltens. Für Dritte macht er sich manchmal bemerkbar, wenn er sich als latente Aggression in den Körper förmlich hineingefressen hat, eine Bemerkung zu scharf ausfällt, ohne dass es dafür einen erkennbaren Anlass gäbe, die Mimik sich versteinert und verächtliche Züge annimmt.

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