Heft 894, November 2023

Das Dilemma der sozial-ökologischen Gleichzeitigkeit

von Sighard Neckel

Als der Weltklimarat (IPCC) am 20. März 2023 seinen letzten Synthesebericht zum Stand der Erderwärmung veröffentlichte, war einmal mehr der Schrecken in der Öffentlichkeit groß, zeigte der IPCC doch abermals auf, wie rasend schnell die Klimakrise voranschreitet, die unser aller Lebensgrundlagen bedroht und dabei die Ärmsten und die am wenigsten Verantwortlichen am härtesten trifft. Aber nicht allein die vielen schlechten Nachrichten zur Zerstörung des Erdsystems sorgten dafür, dass erneut die Zukunft des Planeten in dunkelsten Farben ausgemalt werden musste. Als mindestens ebenso deprimierend wurde öffentlich wahrgenommen, dass – wie der Newsletter Climate.Table zum Erscheinen des Berichts kommentierte – »wir eigentlich alles gleichzeitig machen müssen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen«.

Tatsächlich hatte der IPCC konstatiert, dass »schneller und weitreichender Wandel in allen Sektoren und Systemen notwendig [ist], um tiefgreifende und anhaltende Emissionsreduktionen zu erreichen und eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern«. Jede noch so geringe Zunahme der globalen Erwärmung werde die Risiken des Klimawandels drastisch erhöhen, Kaskaden vermutlich nicht beherrschbarer Ausnahmezustände auslösen, Anpassungsoptionen unwirksam machen und das Zeitfenster schließen, in dem eine Abwendung schwerster ökologischer Krisen und Katastrophen noch möglich sei. Zudem würden sich die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen nicht allein auf unsere Gegenwart und die nahe Zukunft auswirken, sondern »für Tausende von Jahren« den Zustand des Erdsystems bestimmen.

An diese Aussagen schloss der IPCC einen umfangreichen Maßnahmenkatalog an, der so gut wie keinen Bereich in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auslässt und in all diesen Bereichen durchgreifende und in den meisten Fällen sofortige Schritte zur Eindämmung der globalen Erwärmung fordert. Hierzu gehören unter anderem die rasche Dekarbonisierung der Industrie, die Umstellung des Finanzsektors auf nachhaltige Investments, emissionsarme Energieversorgung, Mobilitätsysteme und Infrastrukturen, eine biodiverse Landwirtschaft und weltweiter Gewässerschutz, der ökologische Umbau von Städten, eine strikte Klima-Governance in allen politischen Institutionen, soziale Schutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen zur Steigerung von Resilienz sowie schließlich Konsumreduktionen und »Verhaltens- und Lebensstiländerungen«.

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