Heft 889, Juni 2023

Europa-Kolumne

Die Europäische Zentralbank im Blindflug von Martin Höpner
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Die Europäische Zentralbank im Blindflug

Die Europäischen Zentralbank gibt Rätsel auf. Bis zur Jahresmitte 2022 verzichtete sie darauf, den steigenden Preisen mit Zinserhöhungen entgegenzuwirken. Die Kritik daran war nachvollziehbar. Mit der Notwendigkeit, die Inflation zurück auf die Zielmarke von 2 Prozent zu heben, ließ sich ihr Festhalten an der Nullzinspolitik jedenfalls nicht mehr begründen – die Inflation betrug schon damals 5 Prozent. Von da an ging die EZB in die Vollen. Es folgte nicht nur ein Zinsschritt auf den nächsten, die Notenbank legte sich stets auch ohne Not auf weitere Schritte, auf einen mittelfristigen Pfad steigender Zinsen fest. Das nennen die Zentralbanker »forward guidance«.

Das ist das Gegenteil einer datengestützten Geldpolitik. Eine im Hinblick auf neue Informationen konditionierte Geldpolitik würde auf Sicht fahren und dabei die Entwicklung der Erzeugerpreise, des Konsums, der Investitionen und der Entscheidungen anderer Notenbanken in Rechnung stellen. Vor allem aber irritiert, dass die EZB nicht zu kümmern scheint, ob wirklich eine – im Prinzip durchaus denkbare – Preis-Lohn-Spirale entsteht, die die Inflation auf hohem Niveau verstetigt. Zu sagen, dass die EZB hier auf Autopilot schaltet, wäre noch untertrieben. Denn moderne Autopiloten können zumindest Hindernissen ausweichen, bremsen oder, wenn erforderlich, anhalten. Die Notenbank schaltete stattdessen auf Blindflug, ohne Rücksicht auf das ohnehin äußerst geringe Wachstum und auf die Arbeitslosigkeit. Wenn Sie sehen möchten, wie heftige Zinsausschläge einen Sektor in die Knie zwingen können, dann schauen Sie im Netz einmal nach jüngsten Daten aus der Bauwirtschaft.

Energiekosten treiben die Erzeugerpreise

Dass die Ursachen der Inflation auf der Angebotsseite angesiedelt sind, ist unstrittig. Bereits während der Pandemie haben gestörte Lieferketten die Vorprodukte verteuert. Hinzu kamen deutliche Steigerungen der notorisch schwankenden Energiepreise. Waren sie im Jahr 2020 noch gefallen, zogen sie im Jahr 2021 deutlich an. Wie wir heute wissen, war das nur der Anfang. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der daraufhin verhängten Sanktionen und Gegensanktionen sollten die Energiepreise, besonders die Preise auf importiertes Erdgas, in die Höhe schnellen. Das führt bis heute durch die Bank zu Preissteigerungen, weil Energie in allen Produkten und praktisch allen Dienstleistungen steckt – also auch in jenen Komponenten, aus denen die Statistiker der Notenbanken die so genannte Kernrate der Inflation berechnen.

Solche Kostenschübe fressen sich langsam durch die Wertschöpfungskette und verschwinden nicht so schnell, wie wir uns das wünschen. Ein Frühindikator für die Entwicklung der Verbraucherpreise ist die Inflationsrate der Erzeugerpreise. Sie misst die Herstellungskosten von Gütern inklusive der Preise der Vorprodukte. Die Erzeugerpreise stiegen im Jahr 2022 nicht wie die Verbraucherpreise um 7,9 (Deutschland) oder 8,4 Prozent (Euro-Zone), sondern um 30 Prozent und mehr. Das lässt vermuten, dass immer noch Kostendruck in den Unternehmen schlummert, der die Verbraucherpreise erst nach und nach erreicht – eine Faustregel besagt, dass ungefähr die Hälfte der Erzeugerpreisanstiege auf die Endpreise übergewälzt wird.

Damit will ich nicht in Abrede stellen, dass manche Unternehmen im Umfeld steigender Preise die Gelegenheit nutzen, um ihre Preise über den tatsächlichen Kostendruck hinaus zu erhöhen (die so genannte Gewinninflation). Aber das ist gewiss nicht der Regelfall, etwa quer durch die Teilsektoren des verarbeitenden Gewerbes, und schon gar nicht für die entscheidende Ursache der Preisschübe der vergangenen zwei Jahre.

Der Blick auf die Erzeugerpreise hält auch Erfreuliches bereit. Denn der Anstieg dieser Preise hat seinen Höhepunkt bereits im Sommer des Jahres 2022 überschritten. Seither wurden die Steigerungsraten, betrachtet auf Monatsbasis, nicht nur immer geringer. Sie wurden ab Oktober sogar negativ, die Erzeugerpreise sanken also in absoluten Zahlen. Das lässt vermuten, dass das Schlimmste bereits vorüber ist. Alles deutet darauf hin, dass mit dem Rückgang der Erzeugerpreise auch die Anstiege der Verbraucherpreise zwar nicht von heute auf morgen verschwinden. Aber die Normalisierung der Anstiege dürfte sich fortsetzen. Auch angesichts dieser Daten verwundert, dass die EZB nicht spätestens im März 2023 einen Gang zurückschaltete.

Wenn Inflation in die zweite Runde geht

Preisschübe, deren Ursachen in Verknappungen auf der Angebotsseite liegen, kann die Geldpolitik naturgemäß nicht adressieren. Aber sie muss Wachsamkeit gegenüber Zweitrundeneffekten üben. Damit werden Dynamiken bezeichnet, in denen sich Preise und Löhne gegenseitig hochschaukeln. Gewerkschaften wollen den Kaufkraftverlusten ihrer Mitglieder entgegenwirken und reagieren auf steigende Preise daher mit steigenden Lohnforderungen, harten Arbeitskämpfen und schließlich hohen Lohnabschlüssen. Damit erhöhen sie den Kostendruck auf die Unternehmen zusätzlich, die wiederum die Preise erhöhen müssen, was die Gewerkschaften erneut zu hohen Lohnforderungen ermuntert – und so fort. Selbst wenn die anfänglichen Ursachen der Preisschübe bereits beseitigt sind, kann sich Inflation auf diesem Weg verfestigen. Dass Notenbanken solche Spiralen mit Zinserhöhungen stoppen müssen, will ich nicht in Zweifel ziehen.

Genau hier aber setzt meine Kritik an. Die EZB hat es unterlassen, ihre Zinspolitik im Hinblick auf die Lohnentwicklung zu konditionieren. Das bedeutet nicht, dass sie die Zinsschraube unangetastet hätte lassen sollen – für eine Fortsetzung der Nullzinspolitik, zusätzlich verstärkt durch umfängliche Anleihekäufe, sprach schon vor knapp zwei Jahren in der Tat nicht mehr viel.

Der zur Mitte des Jahres 2022 begonnene geldpolitische Blindflug ist aber etwas anderes. Er markiert mit einer Erhöhung um 3,5 Prozent (Stand vom April 2023) binnen eines Dreivierteljahres die umfassendste Zinserhöhung in der Geschichte der europäischen Notenbank.

Schwache Lohnentwicklung im vergangenen Jahr

Vielleicht aber war eine Preis-Lohn-Spirale bereits in Gang, als die EZB ihren Radar zur Mitte des vergangenen Jahres ausschaltete? Hier die Zahlen zu Deutschland: Nach Angaben des Statistischen Bundesamts stiegen die tariflichen Stundenverdienste im Jahr 2022 um gerade einmal 2,2 Prozent (das gewerkschaftsnahe Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut errechnet 2,7 Prozent). Hier sind die Einmalzahlungen bereits eingerechnet. Ohne die Einmalzahlungen betrugen die Steigerungen sogar nur 1,4 Prozent.

Nun darf man die Tarifsteigerungen nicht mit gesamtwirtschaftlichen Lohnsteigerungen verwechseln: weil es über die Tariflöhne hinaus Zulagen (oder Zugeständnisse vonseiten der Beschäftigten) geben kann und weil die Tarifbindung in Deutschland gegen den internationalen Trend in kurzer Zeit rapide gesunken ist. Nur noch jeder zweite abhängig Beschäftigte ist hierzulande durch Tarifverträge geschützt. Der durchschnittliche Nominallohnanstieg betrug 3,5 Prozent im Jahr 2022. Die Diskrepanz zwischen diesen 3,5 Prozent und den Tarifsteigerungen von im Durchschnitt zwischen 2,2 und 2,7 Prozent ist die so genannte – in unserem Fall: positive – Lohndrift.

Leider lassen sich diese Zahlen wegen unterschiedlicher Messkonzepte nicht problemlos mit denen aus anderen Ländern der Euro-Zone vergleichen. Blickt man ersatzweise auf den Arbeitskostenindex von Eurostat, kommt man zu dem Ergebnis, dass sich Deutschland hier ungefähr im Durchschnitt der Euro-Länder positioniert.

Bezieht man die Arbeitslosenquoten in die Betrachtung ein, ist das durchaus bemerkenswert. Denn Deutschland hatte im vergangenen Jahr die niedrigste Arbeitslosenquote der Euro-Zone und drittniedrigste in der EU, nach Polen und Tschechien. Ein Land mit annähernd geräumten Arbeitsmärkten müsste eigentlich deutlich überdurchschnittliche Lohnsteigerungen hervorbringen. Hier zeigt sich Deutschlands besondere Befähigung zur Vermeidung hoher, potentiell inflationärer Lohnauftriebe – ein Muster, das für Deutschland schon lange vor der Gründung der Währungsunion typisch war.

Die jüngsten Tarifrunden

Die Daten zu den Lohnsteigerungen des vergangenen Jahres sehen aus, als hätte es den Inflationsschub gar nicht gegeben. Das wird gewiss nicht so bleiben. Bereits 2022 wurden neue Tarifverträge geschlossen, deren Wirksamkeit sich erst 2023 entfaltet und von denen klar ist, dass sie höhere Lohnsteigerungen beinhalten als 2,2 oder 3,5 Prozent. Und weitere Tarifrunden liegen gerade hinter uns oder stehen in Kürze an. Kommt angesichts dieser Abschlüsse eine Preis-Lohn-Spirale in Gang? Zur Klärung müssten wir wissen, wo so eine Spirale eigentlich beginnt. Häufig ist zu lesen: Ein, sagen wir, Anfang 2023 vereinbarter Tarifvertrag sieht, auf Jahresbasis betrachtet, Lohnsteigerungen von 5 Prozent vor. Das ist weniger als die Inflationsrate zum Zeitpunkt des Abschlusses. Das Ergebnis bewirkt also einen Reallohnverlust, und also gibt es keine Preis-Lohn-Spirale.

Vor dieser Sicht auf die Dinge muss ich leider warnen. Erstens ist die Wirkung auf die Reallohnentwicklung zum Zeitpunkt des Abschlusses schlicht unbekannt. Zumal wir es fast immer mit sehr langen Laufzeiten von Tarifverträgen zu tun haben, häufig 24 Monate, teilweise sogar noch länger. Niemand kennt die Inflationsraten der Jahre 2023 und 2024. Von denen hängt aber ab, ob sich die vereinbarten nominalen Lohnanstiege in reale Gewinne oder Verluste der Beschäftigten übersetzen.

Zweitens bezieht sich die Logik der Spirale ohnehin nicht auf die Reallöhne und damit, mittelbar, auf die Nachfrageseite. Es geht vielmehr um den von den Löhnen ausgehenden Kostendruck auf die Unternehmen. Und hier gilt: Jede Lohnentwicklung, die über die gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwächse hinausgeht, maximiert den Kostendruck. Und jede Entwicklung, die um mehr als zwei Prozentpunkte über die Produktivitätsentwicklung hinausgeht, übt mehr Kostendruck auf die Unternehmen aus, als es mit der Zielinflationsrate von 2 Prozent verträglich ist.

Daraus ließe sich folgern, dass sich Gewerkschaften stets mit Lohnsteigerungen von 2 Prozent zuzüglich der Produktivitätszuwächse zufriedengeben sollen und dass alles darüber hinaus als stabilitätswidrig einzuordnen ist. Anzunehmen, Gewerkschaften könnten oder sollten sich in ihrer Tarifpolitik ausschließlich an diesen Parametern orientieren, wäre aber weltfremd. Selbstverständlich müssen die Gewerkschaften bei der Wahl ihrer Forderungen auch in Rechnung stellen, ob hohe Preissteigerungen vergangene Lohnsteigerungen ins reale Minus gedrückt haben.

Worauf es daher ankommt, ist, dass die Gewerkschaften hierzulande und anderswo in Europa vernünftige Kompromisse zwischen der Orientierung an der abstrakten, inflationsunabhängigen Lohnregel und dem Ziel der aufholenden Verteidigung der Reallöhne gefunden haben. Damit tragen sie unter dem Strich zum mittelfristigen Rückgang der Inflation bei. Das ist nicht selbstverständlich. Die Gewerkschaften könnten sich auch anders verhalten.

Die Presse sieht es anders

Neben den Ergebnissen der Lohnrunden des vergangenen Jahres verdient auch Aufmerksamkeit, wie sie ausgetragen wurden: diszipliniert, verantwortungsvoll und geräuscharm. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) veröffentlicht jährliche Tarifberichte, in denen auch die Konfliktintensität der Tarifverhandlungen analysiert wird. Für das Jahr 2022 wird eine rückläufige Intensität der Konflikte beobachtet. Das ist eindrucksvoll, denn normalerweise steigt die Konfliktintensität, wenn die Inflation steigt. Allgemein charakterisiert das IW die Lohnpolitik seit Beginn der Inflationsschübe als »überaus stabilitätskonform«. Wenn sich die gewerkschafts- und arbeitgebernahen Forschungsinstitute in ihrer Bewertung der Tarifpolitik ausnahmsweise einig sind, dann ist wahrscheinlich was dran.

Verfolgt man hingegen die öffentliche Berichterstattung, wähnt man sich in einer anderen Welt – einer mit maßlosen Gewerkschaften und horrenden Lohnzuwächsen. Nehmen wir den wichtigsten Tarifabschluss des vergangenen Jahres, den aus der Metall- und Elektroindustrie vom November. »Lohnplus von mehr als acht Prozent – und 3000 Euro Einmalzahlung«, titelte dazu Spiegel Online, ähnlich wie die meisten Zeitungen. Solche Überschriften bleiben hängen. Sie haben nur wenig mit dem zu tun, was wirklich vor sich geht.

Wer nämlich den tatsächlichen Umfang von Lohnsteigerungen verstehen will, muss die Laufzeiten von Tarifverträgen berücksichtigen. Der Abschluss der Metaller bezieht sich auf zwei Jahre, in deren Verlauf sich die tabellenwirksamen Tariferhöhungen schrittweise auf 8,5 Prozent summieren. Zudem ist relevant, wann die Erhöhungen einsetzen. Der genannte Tarifabschluss beginnt mit einer acht(!)monatigen Nullrunde, bevor überhaupt erst die erste Steigerung kommt. Kurz, ein Teil der Medien hat leider große Schwierigkeiten, Tarifabschlüsse stimmig einzuordnen.

Dass kaum jemand solche Meldungen richtigstellt, erscheint so rätselhaft wie das Verhalten der EZB. Wahrscheinlich fehlt den Sozialpartnern beider Seiten derzeit der Anreiz, die Abschlüsse als so moderat zu kennzeichnen, wie sie es in Wahrheit sind. Die Gewerkschaften wollen signalisieren, dass sie alles getan haben, um vergangene Reallohnverluste wieder auszugleichen, aus nachvollziehbaren Gründen: Wer will schon Mitglied einer Gewerkschaft werden oder bleiben, deren Tarifpolitik Reallohnverluste bewirkt?

Und die Arbeitgeber würden durch abweichende Kommunikation den Weg für zeitnahe Lohndrift oder zukünftige lohnpolitische Korrekturen ebnen. Will man den Umfang der Lohnmoderation verschleiern, dann eignet sich der Nebel aus langen Laufzeiten, nicht tabellenwirksamen Einmalzahlungen und vorgeschalteten Nullrunden ganz vorzüglich. Dass es übrigens auch anders geht, zeigte Anfang März ein Abschluss aus der Zuckerindustrie (es handelt sich um fünf verbundene Firmentarifverträge): 7,5 Prozent Lohnerhöhung, für Azubis 200 Euro mehr, ein Jahr Laufzeit – fertig.

Muss die Nachfrage verknappt werden?

Kurz, Zweitrundeneffekte vermögen den Blindflug der EZB nicht zu rechtfertigen. Nun will ich zugestehen, dass die Lohnentwicklung nicht der einzige Parameter ist, den die Notenbank in Rechnung stellen sollte. Welche Rechtfertigungen könnte es sonst noch geben? Spielen wir einige Möglichkeiten durch. Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass die Inflation ihren Ausgangspunkt zwar auf der Angebotsseite nahm, inzwischen aber nachfragegetrieben ist und daher durch Nachfrageverknappung bekämpft werden muss. Selbst wenn man das für richtig hält, ist das Problem: Eine Verknappung der Nachfrage, bewirken die Reallohnverluste ohnehin, selbst noch dann, wenn man die staatlichen Hilfen an Privathaushalte in die Betrachtung einbezieht.

Nun wäre denkbar, dass sich ein Mehr an Konsum, der auf ein verknapptes Angebot trifft, trotz sinkender Realeinkommen Bahn gebrochen hat. Denn hier ist die Sparquote der Privathaushalte mitzudenken. Gab es vielleicht einen Rückgang der Spartätigkeit, der die realen Einkommensverluste überkompensierte? Das ist nicht erkennbar. Die hohe Sparquote der Pandemiejahre hat sich in Deutschland und der Euro-Zone wieder normalisiert, bewegt sich aber nicht unterhalb des Langfristniveaus. Wie die Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom Februar berichtet, stieg die deutsche Sparquote im letzten Quartal des vergangenen Jahres zwischenzeitlich sogar auf das höchste Niveau der letzten zehn Jahre: Angstsparen statt Konsumrausch.

In den aktuellen Debatten scheint auch eine radikalisierte Variante des auf die Nachfrage gerichteten Arguments mitzuschwingen, ohne offen ausgesprochen zu werden. Es ist unerheblich, ob es einen inflationär wirkenden Nachfrageüberschuss gibt – die Geldpolitik hat unbeschadet der tatsächlichen Inflationsursachen stets die Möglichkeit, die Nachfrage einbrechen zu lassen, und sollte das auch tun, bis die Inflation wieder der Zielinflation entspricht.

Ich will gar nicht bestreiten, dass das ginge. Nehmen wir eine importierte Inflation von 5 Prozent an, gegen die die Geldpolitik nichts ausrichten kann. Die Geldpolitik könnte die Binnenwirtschaft nun in eine derart drastische Krise schieben (denken Sie an die derzeitige Lage der Bauwirtschaft), dass sich eine Binnendeflation von 3 Prozent (eine Inflationsrate von minus 3 Prozent) ergibt und das Ganze rechnerisch in eine Gesamtinflation von 2 Prozent mündet. Das aber wäre der nackte Wahnsinn und hat glücklicherweise weder etwas mit dem Stand der internationalen makroökonomischen Debatten noch mit der Sichtweise der EZB und anderer Notenbanken wie der Fed zu tun.

Entschleunigtes Wachstum der Geldmenge

Und die Geldmenge? Haben wir nicht alle einmal gelernt, dass Inflation entsteht, wenn und weil zu viel Geld gedruckt wurde? Ich kann Ihnen versichern: Die Geldmengentheorie der Inflation, die von den Monetaristen vertreten wurde, siecht seit langem dahin, und Anzeichen für Genesung bleiben aus. Selbst die Bundesbank, das ist sensationell, hat dieser Theorie jüngst eine Absage erteilt. Das findet sich im Monatsbericht vom Januar 2023. Die Bundesbank legt dar, dass schon seit der Jahrtausendwende kein klarer Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Geldmenge und der Inflation mehr erkennbar ist. Und speziell sei das in der Frühphase der Pandemie zu beobachtende Geldmengenwachstum nicht inflationär gewesen, auch nicht zeitverzögert. Die Bundesbank schwört dem Monetarismus ab: wie die Zeiten sich ändern.

Dennoch kann man fragen, ob die EZB vielleicht einem außer Kontrolle geratenen Geldmengenwachstum durch Zinserhöhungen Einhalt gebieten wollte oder musste. Davon kann aber keine Rede sein, denn bereits im Februar 2021, fast anderthalb Jahre vor der Zinswende, begann das Wachstum der hier relevanten Geldmenge M3 rapide zu sinken, von in der Spitze ungefähr 12 auf zuletzt unter 3 Prozent. Das ist die niedrigste M3-Wachstumsrate seit fast zehn Jahren. Die enger gefasste Geldmenge M1, die nur Bargeld und die jederzeit abrufbaren Sichteinlagen umfasst, schrumpft seit Anfang des Jahres 2023 sogar. Auch diese Vorgänge rechtfertigen den Mitte 2022 begonnenen Blindflug nicht, schon gar nicht rechtfertigen sie die rätselhafte Fortsetzung des Restriktionskurses im Jahr 2023.

Nun beweist die von mir beklagte Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Lohnentwicklung noch nicht, dass die EZB ihren Blindflug lange fortsetzen kann – selbst wenn sie sich wegen ihres verspäteten Ausstiegs aus der Nullzinspolitik als unerbittliche Kämpferin für Preisstabilität inszenieren möchte. Denn die EZB mag neben der Inflationsbekämpfung weitere, versteckte Ziele verfolgen. Eine weitverbreitete These lautet, dass die EZB mit ihrer Geldpolitik vor allem die Staatshaushalte schützt. Steigen die Zinsen, müssen mehr Mittel für die Schuldenfinanzierung aufgewendet werden, auch für die Refinanzierung bereits bestehender Schulden. Entsprechend schwieriger wird die Aufnahme neuer Mittel zur Finanzierung expansiver Fiskalpolitik.

Finanzielle statt fiskalischer Dominanz

Das klingt ziemlich plausibel. Dennoch sehen es führende Vertreterinnen und Vertreter der politökonomischen Forschung anders. Die vermeintliche Dominanz fiskalischer Ziele, sagt etwa Daniela Gabor von der Universität Bristol, ist eine optische Täuschung. In Wahrheit seien die Notenbanken seit der Finanzkrise vielmehr von der Notwendigkeit getrieben gewesen, die Finanzmärkte zu stabilisieren.

Wir haben jüngst gesehen, wie Banken ins Schlingern geraten können, wenn die Zinsen steigen und Anleihen, die die Banken in ihren Portfolios halten und untereinander handeln, daher an Wert verlieren. Große Banken und ihre Kunden brauchen Sicherheitsnetze. Wie die aussehen, ist seit langem bekannt: Kunden werden durch die Einlagensicherung geschützt, und die Notenbanken verhalten sich gegenüber Geschäftsbanken als lenders of last resort.

Hinter den Banken, so die Einsicht aus der politökonomischen Forschung, steht aber noch etwas Größeres: der in den vergangenen ein bis zwei Dekaden geradezu explosionsartig gewachsene, aber weitgehend unregulierte Sektor der Wertpapierhändler und Geldverleiher ohne Banklizenz, der sogenannte Schattenbanksektor (market-based finance). Auch dieses Finanzmarktsegment ist auf steten Schutz angewiesen, und zwar in Form einer staatlich bewerkstelligten Stützung der Preise von Wertpapieren, insbesondere Staatsanleihen. Solche Wertpapiere dienen den Schattenbanken bei ihren Transaktionen als Sicherheiten. Sinken die Werte der Staatsanleihen oder anderer Vermögenswerte plötzlich ab, so wie es im September 2019 und dann noch einmal im März 2020 geschah, müssen die Zentralbanken eingreifen, um die Preise mittels Ankäufen zu stabilisieren. Kurz, den Notenbanken und so auch der EZB ist aufgrund der entscheidenden Rolle, die Staatspapieren als Sicherheiten zukommt, eine neue Aufgabe zugewachsen: Sie fungieren als Schützerinnen der Liquidität der Banken und Schattenbanken.

Wenn die EZB über Abbruch oder Fortsetzung ihres Blindflugs entscheidet, wird sie ihre neue Rolle als Garantin der Preise für Staatsanleihen mit auf die Waage legen. Die Kaskade an Zinserhöhungen wird absehbar ein Ende finden müssen, wenn auch aus merkwürdigen Gründen: zum Schutz der Finanzmärkte statt aus Einsicht in den geringen Umfang lohnbezogener Zweitrundeneffekte.

Und entgegen aller Verlautbarungen sollte nicht erwartet werden, dass die Bilanzverkürzung – der Verkauf der derzeit auf der Bilanz der EZB befindlichen Staatsanleihen (quantitative tightening) – rasch vonstattengeht. Denn gerade angesichts des Drucks, den bereits die Zinserhöhungen auf die Preise der als Sicherheiten hinterlegten oder hinterlegbaren Papiere ausüben, wäre es Harakiri, große zusätzliche Mengen an Anleihen in die Märkte hineinzudrücken. Das würde Liquiditätskrisen der Banken und Schattenbanken auslösen und ist daher schlicht unmöglich.

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