Europa-Kolumne
Die Europäische Zentralbank im Blindflug von Martin HöpnerDie Europäische Zentralbank im Blindflug
Die Europäischen Zentralbank gibt Rätsel auf. Bis zur Jahresmitte 2022 verzichtete sie darauf, den steigenden Preisen mit Zinserhöhungen entgegenzuwirken. Die Kritik daran war nachvollziehbar. Mit der Notwendigkeit, die Inflation zurück auf die Zielmarke von 2 Prozent zu heben, ließ sich ihr Festhalten an der Nullzinspolitik jedenfalls nicht mehr begründen – die Inflation betrug schon damals 5 Prozent. Von da an ging die EZB in die Vollen. Es folgte nicht nur ein Zinsschritt auf den nächsten, die Notenbank legte sich stets auch ohne Not auf weitere Schritte, auf einen mittelfristigen Pfad steigender Zinsen fest. Das nennen die Zentralbanker »forward guidance«.
Das ist das Gegenteil einer datengestützten Geldpolitik. Eine im Hinblick auf neue Informationen konditionierte Geldpolitik würde auf Sicht fahren und dabei die Entwicklung der Erzeugerpreise, des Konsums, der Investitionen und der Entscheidungen anderer Notenbanken in Rechnung stellen. Vor allem aber irritiert, dass die EZB nicht zu kümmern scheint, ob wirklich eine – im Prinzip durchaus denkbare – Preis-Lohn-Spirale entsteht, die die Inflation auf hohem Niveau verstetigt. Zu sagen, dass die EZB hier auf Autopilot schaltet, wäre noch untertrieben. Denn moderne Autopiloten können zumindest Hindernissen ausweichen, bremsen oder, wenn erforderlich, anhalten. Die Notenbank schaltete stattdessen auf Blindflug, ohne Rücksicht auf das ohnehin äußerst geringe Wachstum und auf die Arbeitslosigkeit. Wenn Sie sehen möchten, wie heftige Zinsausschläge einen Sektor in die Knie zwingen können, dann schauen Sie im Netz einmal nach jüngsten Daten aus der Bauwirtschaft.
Energiekosten treiben die Erzeugerpreise
Dass die Ursachen der Inflation auf der Angebotsseite angesiedelt sind, ist unstrittig. Bereits während der Pandemie haben gestörte Lieferketten die Vorprodukte verteuert. Hinzu kamen deutliche Steigerungen der notorisch schwankenden Energiepreise. Waren sie im Jahr 2020 noch gefallen, zogen sie im Jahr 2021 deutlich an. Wie wir heute wissen, war das nur der Anfang. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der daraufhin verhängten Sanktionen und Gegensanktionen sollten die Energiepreise, besonders die Preise auf importiertes Erdgas, in die Höhe schnellen. Das führt bis heute durch die Bank zu Preissteigerungen, weil Energie in allen Produkten und praktisch allen Dienstleistungen steckt – also auch in jenen Komponenten, aus denen die Statistiker der Notenbanken die so genannte Kernrate der Inflation berechnen.
Solche Kostenschübe fressen sich langsam durch die Wertschöpfungskette und verschwinden nicht so schnell, wie wir uns das wünschen. Ein Frühindikator für die Entwicklung der Verbraucherpreise ist die Inflationsrate der Erzeugerpreise. Sie misst die Herstellungskosten von Gütern inklusive der Preise der Vorprodukte. Die Erzeugerpreise stiegen im Jahr 2022 nicht wie die Verbraucherpreise um 7,9 (Deutschland) oder 8,4 Prozent (Euro-Zone), sondern um 30 Prozent und mehr. Das lässt vermuten, dass immer noch Kostendruck in den Unternehmen schlummert, der die Verbraucherpreise erst nach und nach erreicht – eine Faustregel besagt, dass ungefähr die Hälfte der Erzeugerpreisanstiege auf die Endpreise übergewälzt wird.
Damit will ich nicht in Abrede stellen, dass manche Unternehmen im Umfeld steigender Preise die Gelegenheit nutzen, um ihre Preise über den tatsächlichen Kostendruck hinaus zu erhöhen (die so genannte Gewinninflation). Aber das ist gewiss nicht der Regelfall, etwa quer durch die Teilsektoren des verarbeitenden Gewerbes, und schon gar nicht für die entscheidende Ursache der Preisschübe der vergangenen zwei Jahre.
Der Blick auf die Erzeugerpreise hält auch Erfreuliches bereit. Denn der Anstieg dieser Preise hat seinen Höhepunkt bereits im Sommer des Jahres 2022 überschritten. Seither wurden die Steigerungsraten, betrachtet auf Monatsbasis, nicht nur immer geringer. Sie wurden ab Oktober sogar negativ, die Erzeugerpreise sanken also in absoluten Zahlen. Das lässt vermuten, dass das Schlimmste bereits vorüber ist. Alles deutet darauf hin, dass mit dem Rückgang der Erzeugerpreise auch die Anstiege der Verbraucherpreise zwar nicht von heute auf morgen verschwinden. Aber die Normalisierung der Anstiege dürfte sich fortsetzen. Auch angesichts dieser Daten verwundert, dass die EZB nicht spätestens im März 2023 einen Gang zurückschaltete.
Wenn Inflation in die zweite Runde geht
Preisschübe, deren Ursachen in Verknappungen auf der Angebotsseite liegen, kann die Geldpolitik naturgemäß nicht adressieren. Aber sie muss Wachsamkeit gegenüber Zweitrundeneffekten üben. Damit werden Dynamiken bezeichnet, in denen sich Preise und Löhne gegenseitig hochschaukeln. Gewerkschaften wollen den Kaufkraftverlusten ihrer Mitglieder entgegenwirken und reagieren auf steigende Preise daher mit steigenden Lohnforderungen, harten Arbeitskämpfen und schließlich hohen Lohnabschlüssen. Damit erhöhen sie den Kostendruck auf die Unternehmen zusätzlich, die wiederum die Preise erhöhen müssen, was die Gewerkschaften erneut zu hohen Lohnforderungen ermuntert – und so fort. Selbst wenn die anfänglichen Ursachen der Preisschübe bereits beseitigt sind, kann sich Inflation auf diesem Weg verfestigen. Dass Notenbanken solche Spiralen mit Zinserhöhungen stoppen müssen, will ich nicht in Zweifel ziehen.
Genau hier aber setzt meine Kritik an. Die EZB hat es unterlassen, ihre Zinspolitik im Hinblick auf die Lohnentwicklung zu konditionieren. Das bedeutet nicht, dass sie die Zinsschraube unangetastet hätte lassen sollen – für eine Fortsetzung der Nullzinspolitik, zusätzlich verstärkt durch umfängliche Anleihekäufe, sprach schon vor knapp zwei Jahren in der Tat nicht mehr viel.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.