Heft 896, Januar 2024

Europa-Kolumne

Lässt sich das europäische Demokratiedefizit beheben? von Martin Höpner

Lässt sich das europäische Demokratiedefizit beheben?

Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) ermuntern zu der Frage, wie es um die demokratische Qualität der Europäischen Union bestellt ist. Um dieses Thema rankt sich eine politikwissenschaftliche Fachdebatte, die mittlerweile schwer zu überschauen ist. Wenn ich im Titel dieser Kolumne frage, ob sich das europäisches Demokratiedefizit beheben lässt, setze ich die Existenz eines solchen Defizits freilich bereits voraus. Ist diese Unterstellung fair?

Die EU und die Standards parlamentarischer Demokratie

Vergegenwärtigen wir uns, ob das politische System der EU den Anforderungen an eine parlamentarische (nur eine solche kommt hier infrage) Demokratie genügt. Der erste Blick gilt den Wahlen. Dem deutschen Grundgesetz zufolge müssen sie allgemein und unmittelbar, frei, gleich und geheim sein (so steht es in Artikel 38 GG). Die Wahlen zum Europäischen Parlament erfüllen die meisten dieser Kriterien, aber sie sind nicht gleich. Die Stimme einer maltesischen Wählerin zählt ungefähr zehnmal so viel wie die einer deutschen Wählerin. Der Fachterminus hierfür ist die degressive Proportionalität.

Ist das Parlament einmal gewählt, fehlt ihm das Recht, Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen. Daher können die europäischen Parteien auch nur wenig belastbare Wahlversprechen machen, dürfen sie doch nach der Wahl keine zu den Versprechen passenden Gesetzentwürfe einbringen. Zudem fehlt dem EP, was man normalerweise als Königsrecht der Parlamente ansieht: das Budgetrecht. Der Umfang der Mehrjährigen Finanzrahmen wird im Rat verhandelt, nicht im Europäischen Parlament.

Vor allem aber geht anders als in parlamentarischen Demokratien aus der Parlamentsmehrheit keine Regierung hervor. Die Parteihintergründe der Kommissarinnen und Kommissare ergeben sich aus den politischen Mehrheiten in den Mitgliedstaaten, nicht aus den Europawahlen. Lehnt das EP einzelne Kandidaten für die nächste Kommission ab, hat das nichts mit deren Parteizugehörigkeit zu tun. Kurz, für die Qualifizierung des politischen Systems der Europäischen Union als parlamentarische Demokratie spricht wenig.

Dieser Nachweis eines europäischen Demokratiedefizits taugt nicht viel. Ich habe ihn gleichwohl an den Beginn der Überlegungen gestellt, weil locker zwei Drittel der Debatte so vorgehen. Das gilt für EU-Kritiker und Integrationisten gleichermaßen. Die einen wollen auf diese Weise die Defizite der Union herausstellen, die anderen wollen aufzeigen, an welchen Stellschrauben man drehen muss, um die EU zu einer vollständigen Demokratie zu machen. Man nennt das die staatsanaloge Betrachtungsweise, oder treffender: den staatsanalogen Fehlschluss. Die EU ist aber kein Staat, sondern die obere Ebene eines Mehrebenensystems. Die Prüfkriterien für ein Demokratiedefizit müssen daher andere sein als jene, die man an einen parlamentarischen Staat anlegen würde.

Abgeleitete Demokratie

Es lohnt daher, dem staatsanalogen Fehlschluss eine alternative Betrachtungsweise an die Seite zu stellen. Die Europäische Union besteht aus Mitgliedstaaten, die ihrerseits Demokratien sind. Deren Regierungen üben ihr demokratisches Mandat aus, indem sie die EU mit Aufgaben betrauen. Bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben ist die Union, wie der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf herausstellt, viel abhängiger von den Mitgliedstaaten als Föderalstaaten von ihren Untergliederungen. Und zwar nicht nur, weil sie darauf angewiesen ist, dass die an der europäischen Integration teilnehmenden Länder das EU-Recht in ihr nationales Recht überführen – so etwas ähnliches kennen wir auch aus dem deutschen Föderalismus, wo die Länderverwaltungen Bundesrecht umsetzen.

Entscheidend ist eine andere Art von Abhängigkeit. Im deutschen Föderalismus adressieren die Wählerinnen und Wähler vor allem die obere Bundesebene, selbst noch bei Landtagswahlen. In der EU ist es andersherum, die Wähler adressieren vor allem die untere Ebene, also die Mitgliedstaaten. Das tun sie schon allein, weil sie kaum erkennen können, ob ein neues Gesetz einen europäischen Ursprung hat oder nicht. Die nationalen Regierungen halten in europäischen Angelegenheiten den Kopf hin und werden möglicherweise abgewählt, wenn etwas schiefläuft. Sie haben daher große Anreize, dafür zu sorgen, dass die EU die ihr zugewiesenen Kompetenzen nicht unkontrolliert ausdehnt.

In dieser Betrachtungsweise, die wir die Lehre von der abgeleiteten Demokratie nennen wollen, erfolgt die Demokratiezufuhr aus den Mitgliedstaaten. Wenn die beschriebenen Legitimations- und Herrschaftsketten gut funktionieren, gibt es gar keinen Bedarf an einer Volldemokratisierung der EU. Im Ergebnis entlasten diese Überlegungen die EU davon, selbst demokratisch sein zu müssen. Aber diese Entlastung ist nicht grenzenlos. Wie wir im weiteren Verlauf der Diskussion sehen werden, spricht viel dafür, dass am Ende immer noch ein – mutmaßlich wachsendes – Demokratiedefizit verbleibt.

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