Facebooks News Feed und die Folgen
von Florian GlückAm 5. September 2006 kam es zu einer Welle der Empörung unter amerikanischen Studenten. Über Nacht hatte Facebook eine neue Funktion eingeführt, die sich den Usern in Form eines Buttons ankündigte, der die schlichte Aufschrift »awesome« trug, und nach dessen Bestätigung sich die gewohnte Startseite in eine Liste von sozialen News verwandelte, mit der sämtliche User-Aktivitäten – von Text- und Fotobeiträgen über bestätigte Freundschaftsanfragen bis hin zum geänderten Beziehungsstatus – minutengenau aufgeführt wurden.
Was Facebook ohne Vorankündigung lancierte, sollte weitreichende Folgen für die Nutzung der Plattform haben. Denn einerseits spülte der News Feed die Statusmeldungen fortan selbständig auf die Seiten seiner Nutzer und ließ damit die User nicht mehr die Informationen, sondern die Informationen die User aufsuchen. Und andererseits führte er eine personalisierte Seitenansicht ein, mit der die interaktive Profilbibliothek, die Facebook zuvor war, durch einen dynamischen, algorithmisch kuratierten Nachrichtenstrom erweitert wurde.
Entgegen der Erwartung von Facebooks Führungsriege, die das Konzept für eine »awesome idea« hielt, reagierten die Nutzer allerdings alles andere als erfreut. Statt die neue Funktion zu begrüßen, fühlte sich ein Großteil der acht Millionen College-Studenten, die zu dem Zeitpunkt auf Facebook angemeldet waren, durch die ungefragte Offenlegung ihrer Aktivitäten bloßgestellt – und äußerte diesen Unmut ironischerweise wiederum auf Facebook. Bereits kurz nach der Einführung, in den frühen Morgenstunden des 5. September, protestierten User gegen das Seiten-Update – »I’m tired of people knowing what I’m doing, it’s bullcrap, and it’s annoying!«, »I hate this shit«, »DOWN WITH THE FEED!« – und schlossen sich schließlich in Facebook-Gruppen zusammen, deren größte unter dem Titel »Students against Facebook News Feed (Official Petition to Facebook)« innerhalb von nur 48 Stunden rund 750 000 User (und damit rund 9 Prozent aller User) versammelte und Facebook zur Rücknahme der Funktion aufforderte. Im Hintergrund berichteten studentische Zeitungen über den wachsenden Unmut und das Time Magazine sah sich schließlich sogar veranlasst, von der »ersten offiziellen Revolution« der »Generation Y« zu sprechen.
Was man als ersten Shitstorm in Facebooks Firmengeschichte bezeichnen könnte, hatte indes eine überraschende Pointe. Denn nicht nur protestierten die Nutzer auf Facebook gegen Facebook und machten die Plattform damit zum Gegenstand, Adressaten und Medium ihres Protests. Inmitten des Shitstorms zeigte sich auch, welche entscheidende Funktion dem News Feed im Vernetzungsprozess zukam. »Amidst all that chaos and all that noise«, bilanzierte später die Facebook-Mitarbeiterin Ruchi Sanghvi, »we noticed something unusual. Even though everyone said they hated it, engagement had doubled. There were more page views than there ever were before. And the harshest critics, the very people who said they hated Facebook, were able to spread the word and organize because of News Feed.« Nicht nur provozierte der News Feed also eine harsche Reaktion auf Seiten der User, er eröffnete ihnen auch die Möglichkeit, sich zu organisieren, indem er die Gruppenbeitritte in der Seitenansicht anderer Nutzer anzeigte und die Popularität der Gruppe somit weiter beförderte.
Was den Anschein eines gelungenen Online-Protests hatte, entpuppte sich damit schnell als Lackmustest für die Funktion des News Feed selbst. Schließlich sollte die digitale Studentenbewegung nicht nur die virale Abneigung gegenüber Facebook bekunden, sondern vor allem die Anteilnahme an dieser Abneigung anzeigen, insofern User vermehrt miteinander kommunizierten, in Gruppen interagierten und den News Feed damit in einer Weise nutzten, die die Zielsetzungen des Firmengründers Mark Zuckerberg weit übertraf. Dass die geteilte Aversion damit zum viralen Gradmesser der sozialen Netzwerkeffekte wurde, hält aus heutiger Sicht allerdings noch weitere Erkenntnisse bereit. Denn die Geburtsszene des News Feed lässt sich rückblickend zugleich als Versuchsanordnung begreifen, in der – im kleinen Maßstab – erstmals die sozialen und ökonomischen Fliehkräfte sichtbar werden, die später – im globalen Maßstab – in verschiedenen Kontexten Facebooks Vernetzungspraxis kennzeichnen sollten. Gerade die Einführung des News Feed lädt daher dazu ein, die Bedingungen von Facebooks Informationsökonomie historisch zu beleuchten.
Will man die Entwicklung von Facebooks Informationskonzept nachvollziehen, bietet sich zunächst ein Medienvergleich an, für dessen Popularisierung Facebook selbst immer wieder gesorgt hat: »The goal is to build the perfect personalized newspaper for 1.1 billion people and counting.« Mit der Lancierung des News Feed bediente sich Facebook zunehmend einer Rhetorik, die ganz bewusst die Nähe zur Zeitung suchte. Mark Zuckerberg: »The analogy would be instead of an encyclopedia, it’s now news. We’re emphasizing what’s going on now.«