Heft 868, September 2021

Wolfgang Herrndorfs Nachleben

von Florian Glück

Wer stirbt, erhält nicht ohne postume Unterstützung Eintritt ins Gedächtnis der Nachwelt. Gatekeeper, offizielle und anonyme, bestimmen nicht selten über die Auslegung des Ablebens. Nicht nur, aber in verstärktem Maß im Internet bedeutet dies, dass Rezeptionsgeschichten Versionsgeschichten vorausgehen. Als Wolfgang Herrndorf im August 2013 starb, konnte man die Verwaltung seines Sterbe-Narrativs parallel auf Wikipedia, Twitter und im Online-Feuilleton mitverfolgen: Nachdem der befreundete Sascha Lobo am 27. August in einem Tweet den Tod des Autors verkündet hatte, folgten Newsticker-Meldungen zahlreicher deutscher Tages- und Wochenzeitungen, auf Wikipedia entwickelte sich eine hektische Formalisierungsaktivität, und die Herrndorf-Vertraute Kathrin Passig ließ wiederum auf Twitter wissen, dass der Autor keinesfalls – wie es zunächst in der Online-Enzyklopädie hieß – »an den Folgen der Krankheit« gestorben sei: »Wolfgang Herrndorf starb nicht am Krebs. Er hat sich gestern in den späten Abendstunden am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.«

Herrndorfs Schuss, den Passig nach eigenen Angaben ganz »in seinem Sinn« schließlich zur Meldung über die erfolgreiche Selbsttötung machte, ließ sich damit zugleich als Freundschaftsdienst verstehen, der Herrndorfs eigene literarische Existenz im Netz beschloss. Schließlich sollte eben jene Formulierung wenig später als letzter Eintrag in sein Tagebuch Arbeit und Struktur aufgenommen werden: »Wolfgang Herrndorf hat sich am Montag, den 26. August 2013 gegen 23.15 Uhr am Ufer des Hohenzollernkanals erschossen.«1

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