Heft 896, Januar 2024

Fahrrad ohne Disruption

von Jan Wetzel

Als der niederländische Fahrradhersteller VanMoof im Juli 2023 Insolvenz anmeldete, war das keine Überraschung. Schon die letzten Jahre hatte das Unternehmen nur durch immer neue Kapitalspritzen überlebt, war damit vorübergehend gar zur »most funded e-bike company in the world« geworden. Doch das half nichts. Im Laufe des Jahres wurde VanMoof zahlungsunfähig, schloss Filialen, stellte zunächst Reparaturen und schließlich die Produktion ein. Die verärgerten Kunden ließ man darüber lange im Dunkeln.

Insolvenzen lassen sich kaum auf einen einzelnen Faktor zurückführen, sondern erklären sich aus einem Bündel von Veränderungen im Markt und dessen Umfeld, Fehleinschätzungen des Managements und Zufällen. Dennoch kann man der Pleite von VanMoof schon jetzt einen Sinn abgewinnen, stellte das Unternehmen doch einen der ambitioniertesten Versuche der disruptiven Innovation des Gebrauchsgegenstands Fahrrad dar.

Statussymbol, Demokratisierer individueller Mobilität, Relikt

Das Fahrrad sticht unter den in modernen Industriegesellschaften alltäglichen Gebrauchsgegenständen durch die hohe Beständigkeit seines Designs hervor. Es hat sich in den letzten einhundertvierzig Jahren optisch kaum verändert. Der Grund dafür liegt nicht in ihm selbst, sondern ist das Ergebnis eines historischen Zusammenspiels von Produktion und Konsum. Wie später das Automobil oder der Computer startete es als Spaßprodukt und Statussymbol wohlhabender junger Männer. Dass sich das nach verschiedenen Entwürfen Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzende »Hochrad« anspruchsvoll und gefährlich war, gehörte also dazu. Doch mit den dadurch begrenzten Wachstumsmöglichkeiten wollten sich manche Hersteller bald nicht mehr abfinden. Als »Sicherheitsniederrad« erhielt das Fahrrad in den 1880er Jahren ein auf Sicherheit und Komfort wert legendes Re-Design.

Mit einem günstigeren Preis und aufwändigem Marketing wurde es zum Massenprodukt und binnen weniger Jahrzehnte für breite Schichten erschwinglich. Kostete es in den 1880ern noch ein Mehrfaches des durchschnittlichen Gehalts eines Arbeiters, war sein Preis zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf ein Monatseinkommen gesunken – bei gleichzeitiger Steigerung von Qualität, Sicherheit und Ausstattung. Das Fahrrad war damit zum Symbol von Demokratisierung durch Technisierung und Individualisierung durch Massenkonsum geworden; ein Beispiel für die materielle Ausstattung der »menschenfreundlich-massenfürsorglichen Epoche«, wie Werner Sombart, der Historiker und Soziologe des Konsums, Anfang der 1920er Jahre die Industriegesellschaft seiner Zeit beschrieb.

Bereitete das Fahrrad mit diesem Erfolg den Siegeszug der technisierten individuellen Mobilität vor – ist also historisch Vorläufer, nicht Gegenmodell des Automobils –, wurde es im Laufe des 20. Jahrhundert zunächst durch motorgetriebene Zweiräder, nach dem Zweiten Weltkrieg durch das Automobil verdrängt. Auch die Fernreise, während des Siegeszugs des Fahrrads weiterhin der Eisenbahn vorbehalten, wurde individualisiert. Mit dem eigenen Automobil von der eigenen Haustür möglichst schnell (fast) überall hinzukommen, wurde zum Ziel der Verkehrspolitik. Von Anfang an hatte das auch eine ästhetische Dimension: Sich eine ganze Nation, später völkisch uminterpretiert, fahrend anzueignen – das ging nur auf der Autobahn.

Doch nicht nur die Landschaft, auch die Städte mussten dafür umgeformt werden. Für den wachsenden Verkehr wurden die Straßen breit ausgebaut und stärker reguliert. Die moderne Verkehrsplanung entstand und sicherte dem Automobil immer größere Flächen zum Fahren und Stehen. Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs kamen den Planern dabei nicht selten gelegen. Das Fahrrad, das mitten in dem für heutige westliche Augen chaotischen Durcheinander städtischer Mobilität um 1900 gestanden hatte, wurde buchstäblich an den Rand gedrängt.

Das Ergebnis war die große Krise der deutschen Fahrradindustrie in den 1970er Jahren. Sinkende Nachfrage, bedingt durch den Verlust von Nutzwert und Status, führte zu einer stärkeren Preiskonkurrenz und Offshoring nach Ostasien. Unternehmen konnten sich nur dann behaupten, wenn sie möglichst billig produzierten. Ein Symbol dieser Krise ist das Billig-Klapprad für den Kofferraum, für das die angeschlagenen Hersteller die automobile Gesellschaft zu begeistern suchten.

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