Heft 885, Februar 2023

Feministische Philosophie

von Martin Hartmann

Die feministische Philosophie gehört zu den spannendsten und innovativsten Strömungen der gegenwärtigen Philosophie. Sie nutzt die begrifflichen und methodischen Mittel der Philosophie und wendet sie unmittelbar auf Fragestellungen an, die zumeist einen eminent politischen Charakter haben. Sie verletzt dabei selbstbewusst überkommene Unterscheidungen – etwa die zwischen praktischer und theoretischer Philosophie – und veranschaulicht ihre Überlegungen selten an bloß ausgedachten Fällen oder unter Zuhilfenahme kontrafaktischer Situationsbeschreibungen. Die Fälle, die sie heranzieht, um ein Argument zu erhärten, sind in der Regel reale Fälle, die Beispiele, die sie anführt, stammen häufig aus dem eigenen akademischen und nichtakademischen Alltag. Feministische Philosophie nimmt Stellung, sie versteckt sich nicht hinter Modellen philosophischer Objektivität, sie ist, wie man früher in Frankfurt sagte, offen interessegeleitet. Sie sieht sich als Teil der feministischen Bewegung im Ganzen und verwechselt sich keinesfalls mit dieser. »Feminismus«, so Amia Srinivasan, »ist keine Philosophie, keine Theorie, ja, nicht einmal eine Anschauung. Er ist vielmehr eine politische Bewegung, die die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändern soll.«1

Interessanterweise provoziert aber gerade diese klare Anbindung an eine soziale Bewegung Stellungnahmen, die die feministische Philosophie als Philosophie infrage stellen. Das zeigt sich zum einen an manchen außerakademischen Reaktionen auf Beiträge der feministischen Philosophie, zum anderen aber auch an Debatten, die innerhalb der feministischen Philosophie selbst geführt werden. Was den ersten Punkt angeht, konnte man beispielsweise erstaunt zur Kenntnis nehmen, wie vernichtend manche Rezension zu Kate Mannes Erfolgsbuch Down Girl: Die Logik der Misogynie in deutschsprachigen Zeitungen ausfiel und dass es gerade der philosophische Charakter des Buches war, der dabei negativ markiert wurde.

Diba Shokri etwa hielt dem Buch seine unhistorischen, bloß spekulativen Abstraktionen vor, ausgerechnet Svenja Flaßpöhler attestierte ihm »grandiose« Unterkomplexität, es bewege sich in einem »akademischen Kokon« und verfehle zentrale Aspekte weiblicher Wirklichkeit. Ähnlich Kerstin Maria Pahl, auch sie warf Manne vor, oberflächlich, unhistorisch und kontextlos zu argumentieren. Shokri schließlich lancierte noch einen besonders schweren Vorwurf, indem sie Manne vorwarf, die Binarität der Geschlechter zu zementieren, gegen die sie doch ankämpfe.2

Aber auch innerhalb der feministischen Philosophie selbst gibt es Debatten, die den Status des eigenen Tuns befragen. So warf Sally Haslanger vom Massachusetts Institute of Technology der bereits zitierten Amia Srinivasan in einer durchaus fairen und ausgewogenen Rezension ihres vielbeachteten Buches Das Recht auf Sex: Feminismus im 21 Jahrhundert vor, nicht wirklich zu verstehen, wie Gesellschaft funktioniere, und deswegen naive Vorschläge zur Verbesserung der Situation für Frauen zu machen.3 Gute Gesellschaftskritik brauche eine gute Sozialtheorie, eine solche fehle aber in Das Recht auf Sex. Srinivasan, ihrerseits Professorin für Philosophie an der University of Oxford, nutzte die Gelegenheit eines Interviews prompt und bestritt die Notwendigkeit, feministisch inspirierte politische Anliegen einzig im Lichte umfassender Theorieannahmen artikulieren zu können.4 Haslangers Lektüre ihres Buches, so Srinivasan, offenbare ein extrem beschränktes Verständnis dessen, was feministische Theorie sein könne und sei zu weit entfernt von der tatsächlichen Geschichte feministischer Praxis.

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