Heft 861, Februar 2021

Wider eine falsch verstandene Skepsis

von Martin Hartmann

Manche Argumente sehen auf den ersten Blick so gut aus, dass man sich ein wenig schämt, ihre Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit zu entlarven. Mir geht es so mit einem Argument, das ich das Argument der Skepsis nennen möchte. Es kommt mit großem humanistischen Pathos daher und richtet sich zumeist, wenn auch nicht immer in ganz transparenter Weise, gegen scheinbar etablierte linke oder kapitalismuskritische Gewissheiten, etwa gegen die (nun ja: vermeintliche) Gewissheit, dass sich das Erdklima mit potentiell katastrophalen Folgen für Mensch, Tier und Natur erwärmt. Manchmal zieht sich das Argument das Kleid des Pluralismus über und verteidigt die Vielfalt der Meinungen und Positionen gegen scheinbar festgefügte Wahrheitsannahmen oder blinden Fanatismus, manchmal feiert es intellektuelle Bescheidenheit und rühmt Haltungen des Selbstzweifels.

Am besten hat das Argument der Skepsis die unvermeidliche und stets gewieft provokante Thea Dorn in einem Text auf den Punkt gebracht, der sich gegen den »Öko-Radikalismus« (sic!) von Fridays for Future richtet: »Halte es nicht für ausgeschlossen, dass du dich irrst und dein Gegner im Recht ist!« Ihre Haltung bezeichnet sie als skeptisch gegenüber jeglichem Aktionismus, »der dem kritischen Zweifel, der Besonnenheit und dem differenzierten, nüchtern abwägenden Blick auf die Wirklichkeit keinen Raum mehr lässt.«1 Man sieht sofort, wie attraktiv das Argument ist, wenn man kurz vergisst, wogegen es sich im Kern richtet. Wer will nicht kritisch, differenziert, skeptisch, nüchtern und besonnen sein, wer will nicht bereit sein, die eigenen Überzeugungen und Meinungen zu hinterfragen, wenn sie mit besseren Überzeugungen und Meinungen konfrontiert werden?

Dorn ist nicht allein. Der Historiker Volker Reinhardt stellt die Frage, was wir denn über den Klimawandel und die Corona-Krise wirklich wissen können, und stellt recht dramatisch fest, dass wir letztlich ziemlich wenig wissen, wenn Wissen im strengen Sinn eigene Recherchen oder eigene Beobachtungen (kritischen »Augenschein«) erfordert. Was wir zu wissen glauben, stammt, so Reinhardt, in fast allen Fällen von »fremden Meinungen« zumeist weniger Experten, so dass »mehr Augenmaß und Behutsamkeit« in der Übernahme dieser fremden Meinungen durchaus ein Zeichen intellektueller Redlichkeit sei.2 Anders als der inkriminierte linke Moralist nimmt der skeptische Pluralist Meinungsvielfalt also ernst. Er weiß, dass man jeden Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann, und plädiert dafür, die eigene Perspektive im Licht anderer Perspektiven zu relativieren.

Besonders klar haben das Rebekka Reinhard und Thomas Vašek auf den Punkt gebracht. In ihren Augen hat der wahre Pluralist ein Gespür dafür, »dass wir eben nicht alles besser wissen als die anderen«. Wichtiger als jeder harte »Sachdiskurs« sei es, wie sie hinzufügen, »sich selbst mit den Augen der anderen zu betrachten«. In diesem Sinn befürworten Reinhard und Vašek einen Wertpluralismus, der sich der unversöhnlichen Konflikthaftigkeit menschlicher Ziele bewusst ist und darauf verzichtet, anderen die eine und einzige Wahrheit aufzudrängen. Bündig fassen sie zusammen: »Ein liberaler Demokrat sein heißt, nicht recht haben zu wollen.«3

Denkfehler

Was könnte problematisch sein an diesem vielstimmigen Plädoyer für Pluralismus, Perspektivenvielfalt und skeptische Selbstrelativierung? Die Antwort ist, dass es auf Denkfehlern beruht, von denen einige einfach, andere komplizierter sind. Natürlich gibt es einen altbekannten Standardeinwand: Der skeptische Pluralist muss selbst Recht haben wollen, er muss an die eine Wahrheit des Pluralismus glauben. In den Diskursspielen der Frankfurter Schule hieß diese Figur einmal performativer Selbstwiderspruch. Ähnlich muss auch der Relativist glauben, dass die Wahrheit des Relativismus selbst nichtrelativ gültig ist. Man kann die Figur des performativen Selbstwiderspruchs in schwindelerregenden philosophischen Höhen verhandeln, was hier unterlassen werden soll.

Wichtig ist nur, dass auch wahre Pluralisten kaum leugnen können, dass ihr Plädoyer andere überzeugen soll. Oder sollen nur Demokraten annehmen, sie könnten Unrecht haben, während die anderen (wer soll das sein?) fröhlich an ihren Überzeugungen festhalten und einfach darauf warten, dass der Demokrat ihnen Recht gibt? So richtig es ist, von allen Teilnehmern am Dialog den Verzicht auf Besserwisserei zu verlangen, so falsch wäre es, diesen Verzicht mit einer vorauseilenden Relativierung der eigenen Position in eins zu setzen. Damit aber ist Raum geschaffen für den Glauben an bessere und schlechtere Argumente, an wahre und unwahre Überzeugungen.

Isaiah Berlin, auf den sich etwa Reinhard und Vašek in ihrem Plädoyer für den Pluralismus berufen, wusste das und war keinesfalls Skeptiker oder gar Relativist. Vielmehr wusste er, dass es einen genuinen Wertpluralismus gar nicht geben kann, wenn Skepsis und der Verzicht auf Rechthabenwollen das eigene Denken grundlegend prägen. Ganz im Gegenteil, in einem Essay zu John Stuart Mill hält es Berlin für selbstverständlich, dass der, der an etwas glaubt oder von etwas überzeugt ist, seinen Glauben und seine Überzeugung durchaus mit Leidenschaft und Ernst vertreten kann, anders gäbe es gar keine wichtigen Zwecke, für die zu leben sich lohnt. Man müsse andere Meinungen und Überzeugungen verstehen und tolerieren, mehr aber auch nicht: »Lehne ihre Sicht ab, denke schlecht über sie, ja, verspotte und verachte sie, wenn nötig – aber toleriere sie.« Das öffnet, wie schnell ersichtlich wird, gerade nicht der Selbstrelativierung und Skepsis Tür und Tor, sondern fordert, die gegenteiligen Meinungen und Sichtweisen auszuhalten, obwohl man sie auf der Basis der eigenen Überzeugungen zutiefst ablehnt.4

Natürlich ist damit noch nicht geklärt, warum man denn gegenteilige Meinungen tolerieren soll, auch wenn man sie für falsch hält. Berlin räumt mit Mill ein, dass es tatsächlich darum geht, die Möglichkeit der Falschheit der eigenen Überzeugungen im Lichte »neuer Tatsachen und Ideen« offenzuhalten. Und diese können immer auch von der Gegenseite präsentiert werden, die genau deswegen ihre Sicht frei und ungezwungen präsentieren können muss. Nur weil die Falsifikation der eigenen Position aber jederzeit möglich sein sollte, muss sie nicht schon a priori vorausgesetzt werden. In gut empiristischer Manier geht Mill davon aus, dass wir so lange an unseren Überzeugungen festhalten können, wie sie nicht plausibel zurückgewiesen werden. Eine vorauseilende Selbstrelativierung ist also nicht nötig, der Falsifikationismus ist kein Skeptizismus.

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