Heft 901, Juni 2024

Klimawandel und Gewohnheit

von Martin Hartmann

Es lässt sich kaum bezweifeln, dass wir nicht genug gegen die zunehmend katastrophalen Folgen des Klimawandels tun. Warum nicht? Die Wissenschaft bietet viele Erklärungsmuster an, die in der Gesamtschau das Phänomen durchaus gut erfassen. Neben harten ökonomischen Faktoren, die den nach wie vor bestehenden Einfluss großer Energiekonzerne auf politische Einflussträger betonen, werden dabei mittlerweile auch zahlreiche weichere Faktoren verhandelt, die auf ihre Weise dazu beitragen, dass etwa die moralischen Implikationen unseres Versagens kaum angemessen begriffen werden. Unsere zentralen moralischen Kategorien, so eine in der Philosophie beliebte Erklärung, eignen sich nicht, um die Langfristigkeit und Komplexität klimaschädlichen Verhaltens zu erfassen, sie sind noch viel zu stark am Muster individuell zurechenbarer Verantwortlichkeit orientiert. Wem füge ich aber konkret Schaden zu, wenn ich mit dem Auto statt mit dem Fahrrad zum Einkaufen fahre?

Andere Stimmen ziehen nicht so sehr unsere moralischen Modelle in Zweifel, sie interessieren sich eher für das, was sie moralische Korruption nennen. Im Prinzip wissen wir schon, was zu tun ist, und wir wissen auch, wie problematisch unser Verhalten etwa mit Blick auf zukünftige Generationen ist – aber wir wollen in gewisser Weise nicht wissen, was wir wissen, wir wissen und wissen zugleich nicht, wir leugnen unser Wissen, verdrängen es oder verfügen über ausreichend Ausweich- und Entschuldigungsstrategien, die uns dabei helfen, die Dramatik moralischer Gewissheit zu entschärfen.

Man schaue sich nur die vielen entschuldigenden »Argumente« an, die besonders jene gern nutzen, die einen energieintensiven Lebensstil pflegen. »Was bringt es, wenn wir hier den CO2-Ausstoß reduzieren, wenn andere Länder das nicht auch tun?« – »Einzelne können eh nichts ändern« – »Unser Wohlstand hängt an fossilen Energieträgern, wir dürfen ihn nicht riskieren« – »Es ist eh zu spät« – »Wir werden technische Lösungen finden« – »Ich tue doch schon genug« – »All die negativen Nachrichten sind eine Zumutung« – »Mit Verboten und Moralismus kommen wir nicht weiter« – »Ich habe keine Zeit, mich um das Klima zu kümmern« – »Ich brauche ein großes Auto, weil ich sonst Rückenschmerzen kriege« etc.

Nur wer eine Moral hat, kann sich der Strenge ihrer Forderungen entziehen, sie in Zweifel ziehen oder sich mehr oder weniger gut rationalisierte Ausnahmen genehmigen. Das ist, wenn man so will, die positive Rückseite moralischer Korruption. Wir wissen eigentlich, was zu tun ist, wir tun es nicht und weichen deswegen die moralischen Forderungen auf. Das hilft, um sich im Spiegel ohne Scham anzuschauen, niemand möchte gern als unmoralisch gelten. Wer andererseits glaubt, unsere Moral sei für die spezifischen Herausforderungen des Klimawandels nicht gerüstet, beraubt zwar die Moral ihres Korruptionspotentials, zieht aber seinerseits eine Variante des Korruptionsverdachts auf sich.

An einer Moral, über die wir noch gar nicht verfügen, können wir uns nicht orientieren, also müssen unsere Reaktionen auf den Klimawandel unzureichend bleiben. Natürlich steht es uns frei, eine neue Moral zu entwickeln, eine, die den speziellen Herausforderungen des Klimawandels angemessen ist, aber wenn man nun beide Erklärungen unseres moralischen Versagens zusammenführt (wir wissen, was zu tun ist, aber sind moralisch korrupt; wir wissen nicht, was zu tun ist, weil unsere Vorstellungen moralischer Relevanz zu eng sind), scheint es wenig Hoffnung zu geben, dass das tatsächlich passieren wird.

Selbst wenn es uns gelänge, uns aus den Fängen der traditionellen Moral zu befreien und eine bessere zu entwerfen, könnte sich die Neigung zu moralischer Korruption ja sofort wieder durchsetzen, sie scheint nicht an spezifischen moralischen Modellen zu hängen, ist gleichsam freischwebend und kann jede noch so klimasensible Moral attackieren.

Nehmen wir diese Neigung zu moralischer Korruption einmal ernst und fragen nach ihren tieferen Quellen. Was hindert uns, die Forderungen der Moral ernst zu nehmen oder eine dem Klimawandel angepasste Moral zu entwickeln? Ich möchte hier einen Faktor nennen, der selten explizit genannt wird, auch wenn er im Hintergrund vieler Erklärungen eine gewisse Rolle spielt: Ich meine den Faktor der Gewohnheit. Diesen Faktor ausführlicher zu würdigen ist durchaus riskant, das wird sich zeigen.

Trotzdem sei einmal der nur scheinbar einfache Gedanke durchgespielt, dass es uns schlicht schwerfällt, unsere Gewohnheiten zu ändern. Mit »uns« sind dabei all jene gemeint, die im Kontext westlich kapitalistischer Staaten einen gewissen Wohlstand genießen durften, der nun auf dem Spiel zu stehen scheint. Dieser Wohlstand drückt sich nicht nur im Verfügen über ökonomisches Kapital aus, er hängt auch am Lebensstil im Ganzen, an Konsumpraktiken, Wohnformen und Wohnorten, an Weisen der Fortbewegung, der Nahrungsaufnahme und der Freizeitgestaltung. Ich drücke es so schlicht wir nur möglich aus: Wir wollen diesen Lebensstil nicht aufgeben, wir hängen an ihm, wir haben uns an ihn gewöhnt, und genau deswegen lassen wir uns immer wieder und erschreckend leicht moralisch korrumpieren, finden Ausreden, rechtfertigen Ausnahmen, leugnen negative Externalitäten unseres Verhaltens.

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