Geschichtskolumne
Post vom Volk von Claudia C. GatzkaWer als einfache Staatsbürgerin der eigenen Stimme politisches Gehör verschaffen möchte, hat in der liberalen Demokratie die Qual der Wahl. Sie kann eine Petition an Behörden oder Institutionen richten, eine Demonstration organisieren, eine Initiative ins Leben rufen oder gleich eine Partei, eine Zeitung, eine Online-Plattform oder einen YouTube-Kanal gründen. Die Mittel, die bereitstehen, wenn die Fiktion der Repräsentation durch gewählte Abgeordnete und durch politische Parteien nicht mehr verfängt, erfordern keine Mehrheiten. Doch sie verlangen eine kritische Masse an Mitstreiterinnen, um die Chance auf Resonanz zu erhöhen.
Gegenwärtig rücken einfache Staatsbürger aber auch jenseits formaler Partizipationskanäle ins Rampenlicht. Ihre Worte werden neuerdings sogar vor Parlamenten und Öffentlichkeit zitiert, wenn auch anonym. Alles, was sie dafür tun müssen, ist eine Hass-Mail zu schreiben. Im Bayerischen Landtag etwa hat Ministerpräsident Markus Söder während der Corona-Krise einige Zuschriften verlesen, die er und sein Team für besonders eindrückliche Beispiele für »Hass und Hetze« hielten. Der Empörungs- und mithin Nachrichtenwert solcher Kommentare und Zuschriften wird aktuell noch gesteigert, wenn sie als Ausweis »rechtsradikaler« und antisemitischer Gesinnung gelten können.
Die sogenannte Hassrede erscheint als eine neue Praxis, die in politischen Randlagen wachsende Affekte auf die Foren demokratischer Debatte verpflanzt und dort Störungen und Irritationen verursacht. Sie ist ein emergentes Phänomen digitaler Kommunikationsräume und ist es zugleich nicht, und dies gilt für viele kommunikative Erscheinungen, die aktuell debattiert werden: Als beobachtetes und begrifflich gefasstes Problem ist »Hassrede« zweifellos eine Hervorbringung des Internet-Zeitalters, konkret eine Form des hier sich vollziehenden Durchbrechens von Linien, an denen einst Gatekeeper den Zugang zum öffentlichen Raum kontrollierten. Besonders deutlich bekommen das Frauen zu spüren, die in politischen Ämtern oder öffentlichen Rollen auftreten. Einige machen mittlerweile Fälle von Hasskommunikation in den sozialen Medien sichtbar. Das dient nicht nur dazu, deren strafrechtliche Relevanz zu demonstrieren, sondern auch zivile Spielregeln in digitalen Räumen durchzusetzen.
Zivilgesellschaftliche Abwehrversuche von politischem Hass zeigen sich auch in Kampagnen wie »Wir zeigen Haltung«, einer Initiative, die in Kassel an das Schicksal des getöteten Regierungspräsidenten Walter Lübcke gemahnt. »Haltung« meint hier nicht nur, entschlossen dem Hass entgegenzutreten. Als einer Art tugendhafter Disposition wird »Haltung« im aktuellen verhaltensethischen Diskurs auch eine disziplinierende Funktion zugeschrieben: Wer sich eine Haltung zulege, werde nicht mehr von den eigenen Gefühlen übermannt – innere Festigkeit schütze mithin davor, selbst Hass zu verbreiten.
Anleitungen zur Affektkontrolle und Affektabwehr im Namen von Demokratie und Toleranz erscheinen als eine neue Etappe im vollendet geglaubten Zivilisierungsprozess. Manche deuten den impulsiv artikulierten Zorn als Eruption eines in der spätkapitalistischen Erlebnisgesellschaft mutmaßlich verkümmerten thymotischen Elements der menschlichen Seele. Doch es spricht vieles dafür, dass nicht der Affekt selbst, sondern sein gezielter kommunikativer Einsatz die Gegenwart kennzeichnet. Hassbotschaften verweisen demnach nicht auf besondere spätkapitalistische Befindlichkeiten, sondern auf die kommunikativen Ermöglichungsstrukturen des digitalen Zeitalters, die mittlerweile strategisch genutzt werden, um durch den gezielten Einsatz von Affekten eingeschliffene Routinen der demokratischen Verständigung zu stören. Angesichts der wachsenden Aufmerksamkeit für hate speech in der demokratischen Selbstbeobachtung ist es deshalb wichtig, diese Artikulationen nicht als repräsentative Zeugnisse eines tatsächlich um sich greifenden politischen (und sozialen) Hasses anzusehen, sondern sie in ihrer politischen und sozialen Funktion zu untersuchen – zumal meist unklar ist, wie organisiert sie ausgesandt werden.
Aus dem gezielten Regelbruch einiger auf eine allgemeine Verrohung der Sitten oder gar eine anthropologische Rohheit der Vielen zu schließen, bedeutet, das Anstößige, das Skandalon zum Fokus demokratischer Selbstbeobachtung zu machen. Erinnerungen an den alten Diskurs um die gefährlichen »Massen« kommen dabei auf. Eine bessere Strategie wäre es, Hassbotschaften in Relation zu setzen zu den vielen anderen Formen politischer Artikulation per Textnachricht »von unten«, die zivile Regeln des Miteinanders achten. Um feststellen zu können, wie viel Dammbruch mit Digitalität einhergegangen ist oder ob die Artikulation politischen Hasses eher etwas mit gewissen politischen Großkonstellationen oder gar mit der liberalen Demokratie als solcher zu tun hat, hilft ein Blick in die politische Alltagskommunikation vor der digitalen Transformation.
Hass in der Demokratie
In der alten Bundesrepublik herrschte lange die Überzeugung vor, politische Affekte gehörten zum Traditionsbestand der deutschen Demokratie (womit immer auch gesagt war, dass politische Affekte der von besonnenen Staatsmännern getragenen deutschen Monarchie noch fremd gewesen wären). Mit Blick auf die Gegenwart der jungen Bundesrepublik erinnerte ein Essay von Dolf Sternberger im Jahr 1959 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an die verheerende politische Konfliktkultur der Jahre zwischen den Weltkriegen. Die Weimarer Republik kam dabei denkbar schlecht weg. Sie stand für blanken Hass im politischen Alltag, für die Diffamierung des politischen Gegners als Feind und für die Aushöhlung des »Staatslebens« von links wie von rechts.
In der liberalkonservativen Deutung Sternbergers mündete der politische Hass der Republik unmittelbar in die »Diktatur des Hasses«: Hitler habe das Ressentiment, das vorher von unten gewachsen sei, von oben verkündet und zum Prinzip seiner Herrschaft gemacht. Die NS-Diktatur wäre demnach eine Hervorbringung republikanischer Affekte gewesen und Weimar eine Gelegenheit für Demagogen, ihren aggressiven politischen Stil in die Verwaltungszimmer deutscher Staatlichkeit hineinzutragen. Die deutsche Demokratie wie die deutsche Diktatur erschienen bei Sternberger letztlich staatsfern, denn politisch Hassenden fehlte es ihm zufolge an »Staatsbewußtsein«: Das Wesen des Staates sei der Frieden.
Für zeitgenössische Maßstäbe gestand der Politikwissenschaftler ungewöhnlich offen ein, dass Hass noch längst nicht aus dem deutschen Staatsleben getilgt war. Der Bundeskanzler, Ministerpräsidenten, Kabinettsmitglieder und Oppositionspolitiker würden gleichermaßen zu Zielscheiben von Hass. Wie viele öffentliche Sachwalter der liberalen Demokratie bemühte sich Sternberger darum, für Verhaltensformen zu werben, die zur Stabilität der jungen Bundesrepublik beitragen würden. Hass gehörte freilich nicht dazu, und ein probates Mittel, ihn zu delegitimieren, war der Rückgriff auf Modernitätssemantiken. So hieß es bei Sternberger: »Mit Stolz die Regierung zu hassen, erscheint uns gänzlich antiquiert.« Die bestehende Ordnung zum Inbegriff von »Modernität« zu erklären, schien dem Bemühen, die Bevölkerung für eine Demokratisierung zu gewinnen, zuträglicher zu sein als die offene Kriminalisierung des weitverbreiteten antidemokratischen Ressentiments, das sich vor allem gegen Parlament, Parteien und politische Aufsteiger in Funktionärs- und Bürokratenkreisen richtete.