Heft 900, Mai 2024

Geschichtskolumne

Demokratie als Diktatur denken, und umgekehrt von Claudia C. Gatzka

Demokratie als Diktatur denken, und umgekehrt

Seit zwanzig Jahren beobachten Politikwissenschaftler, wie sich Autokratien (in unterschiedlichen Abstufungen) wieder auf dem Globus ausbreiten. Zwei Drittel der Weltbevölkerung, vornehmlich in Asien, Afrika und Südamerika, leben heute unter autokratischer Herrschaft – eine Rückkehr zum Stand von 1972. Die »third wave of democratization« seit den 1970er Jahren ist also versandet, und manche Politikwissenschaftler sprechen nun von der »third wave of autocratization«. Sollte sie sich zu solcher Höhe auftürmen, dass sie den nordamerikanischen Kontinent erfasst, wäre das ein Novum in der Geschichte, waren die USA im 20. Jahrhundert doch der demokratische Fels in der autokratischen Brandung.

Doch der Griff zur maritimen Metaphorik war schon immer eine etwas hilflose Strategie, mit menschengemachten Umbrüchen umzugehen. Autokratien entstehen ebenso wenig wie Demokratien durch göttliche Winde oder Dominoeffekte. Der internationale und globale Zusammenhang kann, muss aber nicht politische Umbrüche in einzelnen Staaten erklären. Erst jüngst hat Thomas Etzemüller dankenswerterweise daran erinnert, dass auch in der Zwischenkriegszeit nicht alle liberaldemokratisch verfassten Staaten der autoritären Versuchung erlagen. Damit hat er auch eine Obsession der Historiker und Politikwissenschaftler mit der Diktatur aufgedeckt, die autoritäre Fantasien zum Signum einer Epoche erheben und demokratische Resilienz dadurch vergessen machen.

Eine gewisse Neigung, Diktaturen in Vergangenheit und Zukunft für unausweichlich zu halten, vereint in diesen Zeiten also eine Vielzahl von Sprechern. Zugrunde liegt zum einen die – nach politologischen Maßstäben – messbare Autokratisierung der Welt seit 2002, zum anderen aber auch die problematische, weil tendenziell fatalistische Vorstellung, Diktatur und Demokratie würden von Wellen getragen, die ganze Erdteile überspülten. Das Bild erklärt wenig, birgt aber das Potential selbsterfüllender Prophezeiungen, die in der Geschichte politischer Kommunikation nicht zu unterschätzen sind. Auch vor 1933 sah man in Deutschland vielerorts die Diktatur kommen.

Dass Diktatur und Demokratie menschengemacht sind und nicht gleichsam durch Krisen, Kriege oder Revolutionen quasi naturgesetzlich von einem Zustand in den anderen kippen müssen, lässt sich vielleicht besser im Bild von Ebbe und Flut fassen, um einmal maritim anschlussfähig zu bleiben. Sowohl in Monarchien als auch in Republiken haben Zeitgenossen im 19. und 20. Jahrhundert die Problemlösungskompetenz angesichts multipler Krisenerfahrungen mal eher bei demokratischen, mal eher bei autoritären Regierungsformen verortet. Dabei geht es, sehr vergröbert, um den Widerstreit zwischen dem stets attraktiven Modus des effizienten Durchregierens (dank der Einschränkung von Gewaltenteilung und der Begrenzung von Regierungskomplexität) und dem Prinzip der Freiheit zur Selbstregierung, das offen gestanden selten das wichtigste Ideal war, sondern vor allem dann geltend gemacht wurde, wenn man mit der konkreten Politik der Regierung nicht zufrieden war.

So auch heute. Doch ist das Pendel nun wieder in Richtung Autokratie ausgeschlagen? Sehnen sich Wählermassen nach Präsidenten oder gar Diktatoren, die über uneingeschränkte Macht verfügen, die Rechtssicherheit aussetzen, Freiheiten ausschalten können? Die Antworten müssen allein schon aufgrund des historischen Ballasts des vergangenen Jahrhunderts skeptisch ausfallen. Das kulturelle Gedächtnis weiß um die Diktaturen des 20. Jahrhunderts – mehr vielleicht, als das gegenwärtige Bewusstsein um die Realität der bestehenden Autokratien in der Welt weiß. Es ist daher nicht mehr so einfach wie noch in der Krisenzeit um 1930 möglich, die Diktatur für denkbar und für wünschenswert zu halten. Der Umstand, dass autoritäre Lösungen seit geraumer Zeit ausgerechnet im Hinblick auf mögliche Auswege aus der Klima- und Umweltapokalypse debattiert werden, ist für viele ja gerade ein Anlass, demokratische Werte vorzuschützen. Nur wenige halten heute eine »Ökodiktatur« für eine realistische Option, selbst wenn sie von der Notwendigkeit ökologischer Gegensteuerung überzeugt sind. Selbst wer eine positive Vision vom autoritären Durchregieren hat, wenn es um gewisse Politiken geht (zum Beispiel die Rückführung gesellschaftlicher Liberalisierung und die Ausweisung oder Abwehr als migrantisch markierter Bevölkerungsteile), grenzt sich von der Diktatur ab. Denn auch auf dieser Seite ist die Rede davon, es gelte Freiheiten und Rechte zu verteidigen, vor allem als Konsumenten.

Das Interessante ist also, dass die Diktatur faktisch ausgedient hat, dass schon lange niemand mehr ernsthaft für autokratische Verhältnisse werben kann, dass sie allerorts als desavouiert gelten und dennoch scheinbar vor der Tür stehen. Wie kann es sein, dass niemand Diktatur will, aber viele sie kommen sehen?

Die Diktatur der Gegner: Positionalität

Es kann deshalb sein, weil sich der Diktaturbegriff von einem historischen zu einem aktuellen politischen Kampfbegriff entwickelt hat. Er dient heute vorrangig der Diskreditierung des Gegners und der semantischen Umwertung des liberaldemokratischen Institutionengefüges in eine Art Pseudodiktatur. Anders als im Fall der »Autokratie« kann das Sprechen von der »Diktatur« auf Vergangenheiten verweisen, die gewissermaßen zu globalen Erinnerungsorten der Unfreiheit geworden sind. Als Abbreviatur für reale, aber vergangene Regime kann und soll der Diktaturbegriff Bilder evozieren, die Schrecken erzeugen. Gerade in Deutschland, aber auch in Italien oder Österreich, kommt er seit einigen Jahren explizit oder implizit zum Einsatz, um politische Gegner, politische Projekte oder die Verfassungspraxis zu delegitimieren – oder schlicht, um Verwirrung zu stiften.

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