Im Widerspruch beflügelt
Über Karl Heinz Bohrer von Eckhard Schumacher»Meine Kollegen verstehen nichts von Kunst.« Dieses Urteil, geäußert im Zimmer seiner Hilfskräfte, die er nie Hilfskräfte, immer nur Assistenten genannt und deren gelegentlich ganz anders gelagertes Verständnis von Kunst er immer ernst genommen und neugierig distanziert verfolgt hat, war natürlich zu hart und zu pauschal, hinsichtlich der Kollegen an der Universität wie gegenüber der hier allgemein mitadressierten »Germanistikgermanistik«. Aber die Geste der Distanzierung macht einen Grundzug von Karl Heinz Bohrers Selbstverständnis deutlich, das ihn als Literaturwissenschaftler, Kritiker, Essayisten, Autor und Intellektuellen gleichermaßen geprägt hat.
Bohrer hat immer von der Kunst aus, mit der Kunst gedacht. Wenn er Virginia Woolf, James Joyce, André Breton, Charles Baudelaire, Heinrich Heine, Giacomo Leopardi, Heinrich von Kleist oder Karoline von Günderrode zitiert hat, ging es selten um eine Belegstelle für ein Argument. Bohrer hat vielmehr mit ihnen argumentiert, hat Argumente im ästhetischen Diskurs gefunden, literarische Subjektivität als Erkenntnismodus begriffen. Die Einsicht, dass die Literatur dem Begriff immer um ein Haar voraus ist, bereits Anfang der 1970er Jahre im Merkur notiert, hat ihn allerdings weder als Kritiker noch als Theoretiker dazu gebracht, auf die Seite der Kunst zu wechseln, sich ihr anzunähern oder anzubiedern. Er hat auch in dieser Hinsicht auf Distanz, auf Kriterien und Begriffen bestanden. Nur so war das möglich, was Bohrer im Merkur schon anlässlich seiner frühen Essays so anerkennend wie irritiert zugeschrieben wurde: »Er nimmt […] die Literatur vollständig ernst.«
Bohrers zentrale Begriffe – Schrecken, Plötzlichkeit, Gegenwart, Abschied – waren nicht das Ergebnis theoretisch gestützter, metasprachlich austarierter Reflexion, die anschließend auf die Literatur projiziert wird. Es handelt sich um Begriffe, oder auch nur einzelne Wörter, die Bohrer mit einem beeindruckend treffsicheren Gespür für die Strukturen, Dynamiken und Eigentümlichkeiten von Texten in der Literatur vorgefunden und so hervorgehoben hat, dass sie an Strahlkraft gewinnen und ihr konzeptuelles Potential entfalten konnten. Wie selbstverständlich wurden sie auf diese Weise zu Ausgangspunkten einer ästhetischen Theorie, die allgemein und abstrakt ausgreift, zugleich aber höchst individuell und idiosynkratisch bleibt. Wenn man das Wort »plötzlich« hört, war kurz nach seinem Tod auf Twitter zu lesen, denkt man unweigerlich sofort an Bohrer.
Sein Beharren auf der Autonomie des Ästhetischen war auch insofern stark, als es über die Grenzen des konsensuell Vermittelbaren hinausging und Bohrer sich durch seine leidenschaftlichen Positionierungen angreifbar machte. Sein Festhalten an der prinzipiellen Differenz des Ästhetischen war stark als Behauptung, die einen anders nicht erreichbaren Denkraum öffnen konnte. Dass Kulturwissenschaften, Sozialgeschichte und Philosophie in Sachen Kunst nicht immer so ahnungslos und vereinnahmend waren, wie Bohrer es darzustellen wusste, war ihm selbstverständlich klar.
Das, was Bohrer immer wieder erneut als ästhetische Moderne nicht nur verteidigt, sondern allererst sichtbar gemacht hat, war ohne den Gegenpol der »sozialen Moderne« kaum zu denken. So hielt ihn seine enorm ausgeprägte Abneigung gegenüber Begriffen wie »Vermittlung«, »Anschlussfähigkeit« oder »Kommunikation« nicht davon ab, die Kommunikationstheorien von Niklas Luhmann wie Jürgen Habermas anzuerkennen und, bei aller Differenz, zu schätzen. Und bis zu einem gewissen Punkt galt das auch für die Kollegen, die nichts von Kunst verstehen: Die Intensität, die er immer wieder erneut in seinen Polemiken gegen soziologische, geschichtsphilosophische, sozialhistorische sowie, einige Jahre später, kulturwissenschaftliche Verrechnungen in der Literaturwissenschaft entwickelt hat, war eine wichtige Antriebskraft für seine eigenen Studien, die auch deshalb offener angelegt sind, als es der zuletzt zunehmend deklarative Stil zeigt.
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