Heft 895, Dezember 2023

Eskalation erzählen

Nachwendenarration als Gewaltgeschichte von Eckhard Schumacher

Nachwendenarration als Gewaltgeschichte

Die großflächig ausstrahlenden Thesen, die die Historikerin Katja Hoyer und der Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in ihren recht unterschiedlichen Büchern zum freundlich-normalen privaten Alltag in der DDR und zur westdeutschen Erfindung des Ostens als Abweichung von der Norm entfaltet haben, sind für die einschlägig relevanten Fragen erstaunlich unergiebig, haben aber schnell zu einer interessant überhitzten Debatte geführt. Die massive Resonanz zeigt unmissverständlich, dass die Bücher Fragen aufnehmen und aufwerfen, für die Diskussionsbedarf besteht. Sie führt aber auch vor Augen, dass die wünschenswerte Aufmerksamkeit mit einem verblüffenden Verzicht auf Differenzierung und, bei Oschmann, einer grob polarisierenden Polemik erreicht wird, die einem Bedürfnis nach Zuspitzung, Vereinfachung und Eindeutigkeit entgegenkommen, das für eine Diskussion in der Sache wenig förderlich ist. Dabei fällt auf, dass kritische Einwände gegenüber beiden Büchern nicht nur aus dem »Westen« kommen, wo immer dessen Grenzen genau verlaufen mögen. Schärfer formuliert und präziser adressiert werden sie auf der vermeintlich anderen Seite, von Personen, die wie Hoyer und Oschmann in der DDR sozialisiert oder zumindest geboren wurden.

So stimmt Steffen Mau, aus dessen soziologischer Studie Lütten Klein Oschmann in seinem Buch mehrfach Belegstellen herbeizitiert, in einer gemeinsamen Diskussion diesem zwar in mehreren Punkten zu, nicht zuletzt hinsichtlich der diskursiven Dominanz des Westens, des Fehlens einer Öffentlichkeit, die nicht immer schon westdeutsch geprägt ist. Beide Bücher, Hoyers wie Oschmanns, kommen für Mau aufgrund mangelnder Differenzierung jedoch zu umstandslos jenen »Ressentiments«, »Allerweltsdeutungen« und »Vorurteilen« entgegen, die die Debatte ohnehin seit einiger Zeit prägen.

Oschmann hat diese Kritik erwartet und in seinem Buch schon vorab kommentiert, wenn er in gelegentlich ein wenig selbstgefälliger Ausführlichkeit darlegt, er habe zugunsten von Zuspitzung und Schematisierung auf Differenzierung verzichtet, da niemand die »schon in Hülle und Fülle« vorliegenden differenzierten Darstellungen lese. Das ist als strategische Entscheidung nachvollziehbar, ändert aber nichts daran, dass die in mehrfacher Hinsicht komplizierten Verhältnisse so nur unzureichend in den Blick kommen. Dies gilt für die diskursive Zurichtung des Ostens durch den Westen, auf die Oschmann abzielt, wie für Hoyers Ansatz, sehr selektiv eine et-was hellere, nicht gleich mit Mauertoten und Stasi assoziierte DDR zu zeigen. Was nicht nur in diesen Büchern fehle, sei eine kritische Sicht auf die DDR durch ehemalige DDR-Bürger selbst, argumentiert Mau im Gespräch mit Hoyer und Oschmann, der bisherigen Aufarbeitung fehle so etwas »wie ein ’68«.

Dabei geht es Mau nicht um eine weitere Projektion westdeutsch konnotierter Diskurse in Richtung Osten, nicht um ein erneutes Ausblenden jener ostdeutschen Achtundsechziger-Generation, die mit der Niederschlagung des Prager Frühlings stillgestellt wurde, und auch nicht um eine Infragestellung der verschiedentlich ventilierten These, die Revolution von 1989 sei letztlich das ostdeutsche (und tatsächlich revolutionäre) Achtundsechzig gewesen. Mit der Chiffre »Achtundsechzig« weist Mau vielmehr darauf hin, dass die Frage, was die eigenen Eltern, Großeltern und Freunde vor 1989 gemacht hätten, zu wenig gestellt werde. Wünschenswert wäre eine innerostdeutsche Verständigung, die nicht in erster Linie auf Anklage oder Entlarvung zielen muss, sondern mit der gegebenen historischen Distanz einen genaueren Blick auf die Spannung zwischen Alltag und dem, was das System ausgemacht hat, ermöglichen könnte.

Was Mau als Desiderat markiert, wird auch in der Soziologie und der Geschichtswissenschaft diskutiert, auffallend ausgeprägt werden die entsprechenden Fragen aber seit einigen Jahren in der Gegenwartsliteratur gestellt – und hier zuletzt insbesondere von Autorinnen und Autoren, die in den späten 1980er Jahren geboren wurden und als »Nachwendekinder« kaum auf eigene Erinnerungen an DDR und Wendezeit zurückgreifen können. So wird ein Blick auf die DDR und deren Ende möglich, der nicht durch die vermeintlich unmittelbare eigene Anschauung, sondern durch die Perspektive der Nachwendejahre geprägt ist, die in diesen Büchern erstmals ausführlich entfaltet wird und tatsächlich neue Sichtweisen ermöglicht.

Manja Präkels, die, 1974 geboren, mit ihrem 2017 veröffentlichten Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß beide Erfahrungshorizonte verbunden hat, betont in diesem Sinn, es brauche nicht nur »die Geschichten derer, die die DDR aufgebaut, in ihr gelebt haben«, sondern auch »die Geschichten der Nachgeborenen, für die sie weiterhin einen wichtigen Bezugspunkt darstellt«, zumal »ihr Leben immer von dieser Vergangenheit geprägt sein wird«. Das gilt auch für die 1992 geborene Charlotte Gneuß, die mit ihrem Roman Gittersee, einer auf das Jahr 1976 datierten Familiengeschichte in einem Dresdner Vorort, angesichts ihres Geburtsjahrs, ihres Geburtsorts Ludwigsburg und einer in den Literaturbetrieb eingespeisten Mängelliste mit Korrekturen zu DDR-spezifischen Sprechweisen die für das literarische Schreiben durchaus fragwürdige Frage provoziert hat, wer eigentlich DDR-Geschichten aus der Zeit vor 1989 erzählen kann oder darf. Möglicherweise ist es noch ungewohnt, aber kaum abwegig, wenn auch eine im Westen aufgewachsene Autorin, deren Eltern und Großeltern in der DDR gelebt haben, darauf hinweist, dass wir »ein 1968 für unsere Ostgeschichte« brauchen und »wir endlich anfangen sollten, in unseren Familien Fragen zu stellen. Wo wart ihr damals? Was habt ihr vor 1989 gemacht?«

Besonders nachdrücklich hat diese Fragen zuletzt Anne Rabe verfolgt. In ihrem Essay Kinderland hat sie vor einigen Jahren schon darauf hingewiesen, dass bereits der »dritten Generation Ost«, den Jahrgängen 1975 bis 1985, aufgedrängt wurde, »die Achtundsechziger des Ostens« zu werden. Aber auch ohne die unweigerlich westdeutsch-nostalgische Reminiszenz sind die entsprechenden Fragen erkennbar ebenso für die etwas später Geborenen virulent, die, wie Rabe, ihre Kindheit kaum mehr in der DDR verbracht haben, für die die »Wirkkraft« der »DDR-Strukturen« gleichwohl weiterhin prägend war, die sich aber »problemlos durch ganz Deutschland, Europa und die Welt bewegt« und »dieselbe Musik gehört und dieselben Fernsehsendungen« gesehen haben »wie die westdeutsche Generation Y«. Angesichts von angezündeten Asylbewerberheimen, Gewalt gegen Geflüchtete, dem rechtsextremen Terror des NSU und der zuletzt gerade auch von Jüngeren unterstützten AfD, vor dem Hintergrund von Stimmen, die von den Nachwendekindern nicht Austausch und Aufklärung erwarten, sondern Schweigen, da sie ja nicht wüssten, wie es damals war, in einer Situation, in der der Osten und der Westen so weit voneinander entfernt seien »wie vielleicht noch nie seit 1989«, liege es »jetzt«, schreibt Rabe, »an uns, eine Sprache für all das zu finden«.

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