Inverses Schönreden
Ein Kommentar zu Geert Lovinks »In der Plattformfalle« von Bernhard J. DotzlerEin Kommentar zu Geert Lovinks »In der Plattformfalle«
… als ob man sich um jeden Preis an diese Gegenwart anpassen müsse, die sie noch für die Zukunft hielten.
Jakuta Alikavazovic Das Fortschreiten der Nacht
Ganz vorne dabei
»Es liegen Nuggets im Schlamm« hieß die Parole einst, als im Netz und im Web noch Goldgräberstimmung herrschte. Nicht alles, was glänzt, ist Gold, das war natürlich auch damals schon allen bewusst. Rasch war aus der Kathedrale der Basar geworden, mit all seinem Lärmen und nicht selten viel Lärm um Nichts. Nur sollten dennoch, sollten gerade in diesem Tohuwabohu auch Perlen zu finden sein. Oder eben Gold: »Es werden unglaubliche Mengen an Schwachsinn und Redundanz um den Globus bewegt, aber es liegen Nuggets im Schlamm.«
Nicht, dass die Zahl immer neuer Bücher über sämtliche Aspekte des Online-Seins seit jenen Tagen abgenommen hätte. Aber man hat sich längst – auch – an diese Überflutung gewöhnt. Schon vor rund dreißig Jahren schossen die einschlägigen Titel wie die Pilze aus dem Boden (auch wenn es bis zur Rede von einem »Wood Wide Web«, einem Pilz-Internet, noch etwas dauern sollte). Allein 1995, im selben Jahr, in dem Peter Glaser ein Journal über vierundzwanzig Stunden aus dem Leben eines »Netzpfadfinders« als Vorblick auf das 21. Jahrhundert veröffentlichte, erschienen Bill Gates’ Road Ahead, Nicholas Negropontes Being Digital, Clifford Stolls Second Thoughts on the Information Highway und Sherry Turkles Life on the Screen – Identity in the Age of the Internet – und alle in kurzer Folge jeweils auch in deutscher Übersetzung. 1996 folgten Manuel Castells Rise of the Network Society (als erster Band seiner Information Age-Trilogie) und 1997 Michael Dertouzos’ What Will Be.
Was wurde einem da nicht alles verheißen (und hat sich dann auch noch erfüllt)! Es werde der Desktop-Rechner alias PC sich nicht nur verkleinern zum Laptop, wie er es längst getan hatte, sondern er werde sich noch weiter verhandlichen zum »Wallet-PC« oder »Brieftaschencomputer«, der dann allerdings gar nicht mehr als vollausgestatteter, eigenständiger Rechner in Erscheinung träte, sondern eher als kleines Funkgerät, mit dem man sich drahtlos in die entstehenden großen Computernetze einschalten kann: Das Smartphone lässt grüßen. Auch würden die Computer lernen, auf gesprochene Sprache zu hören, und so »den Eindruck vermitteln, als gäbe es zwischen Ihnen und dem Gegenstand Ihres Interesses überhaupt keine vermittelnden technischen Einrichtungen mehr. Sie teilen Ihren Wunsch mit, und sogleich geht er in Erfüllung.« So werde sich »die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und lernen, grundlegend verändern« (Gates). Jeder und jede werde zu einer »digitalen Persönlichkeit«, einfach weil der Umgang mit den entsprechenden gadgets »ein Lebensstil geworden« sein werde (Negroponte).
Und was wurde nicht schon genörgelt und schwarzgemalt! »Ein Teenager in Berkeley begann einen Computer zu benutzen, als er drei Jahre alt war; heute kennt er das Internet in- und auswendig, kann sich aber nicht mit einem Erwachsenen unterhalten.« Oder wenn da gejubelt wird, mit der »vernetzten Welt« ereigne sich ein »Comeback der Schreibkultur«, sehe man doch nur einmal genauer hin: »Mit der Chance eines jeden, seine Werke ins Netz zu schicken, erinnert das Internet langsam an die Ramschkisten vor den Buchhandlungen« (Stoll).
Womit wir wieder bei all dem »Schwachsinn« einerseits, den »Nuggets« andererseits wären. Peter Glaser hat diesen Umstand gewiss nicht als Einziger bemerkt. Sein Buch war nur eines von vielen, und sicher nicht das meisten beachtete. Allerdings war es fast die einzige wirklich sachkundige Veröffentlichung, die nicht als Import im deutschen Sprachraum erschien, sondern unmittelbar von hiesigen Online-Zuständen berichtete. Überwiegend schwärmend, wie es sich für einen gehört, der als Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs firmiert. Da wird aus dessen Hackerbibel von 1984 zitiert (dem Orwell-Jahr mit dem berühmten Anti-Orwell-Macintosh-Werbeclip von Ridley Scott): »Wir verwirklichen soweit wie möglich das neue Menschenrecht auf zumindest weltweiten, freien, unbehinderten und nicht kontrollierbaren Informationsaustausch (Freiheit für die Daten) unter ausnahmslos allen Menschen und anderen intelligenten Lebewesen.« Denn, so Glaser: »Elektronische Information ist schwer zu überwachen und kennt keine Zollkontrolle.« Eine »Schlüsselerwartung« sei daher, »daß die neuen Technologien die Gemeinschaft dem Staat überlegen machen werden und auf diese Weise die Entwicklung der Demokratie stärken«. Und mehr noch: »Der Mensch beginnt mit der gemeinschaftlichen Eroberung seiner Intelligenz und der weiten Areale des Geistes. Wir sind ganz vorne mit dabei, Leute.«
Dort aber, »ganz vorne«, konnte man freilich auch schon dunklere Wolken heraufziehen sehen – wenngleich noch weit entfernt von der Katerstimmung, die inzwischen unter den Netzpfadfindern und Infonauten herrscht. Schwer zu überwachende elektronische Information? »Indem er die virtuellen Verbindungen zurückverfolgt, die wir hergestellt haben, kann jemand ein erschreckend detailliertes Profil unserer Person zusammensetzen – Krankenakten, Telefonrechnungen, Schufa-Auskünfte und E-Mails verflechten unsere elektronischen Handlungen und Äußerungen mit unserer physischen Identität.« Auch sei es mit der »legendären Dezentralität des Internet« keineswegs »so weit her«, wie der Mythos es glauben machen will. Vielmehr stünden »die Conquistadoren« schon bereit, sich zu den »Herren der Infobahn« aufzuschwingen. »Wem gehört der Cyberspace? Uns«, hielt Glaser dieser Einsicht trotzig entgegen, als das 21. Jahrhundert noch Zukunft war.
Verzweiflung, Niederlage, Verzagtheit
Im August des vergangenen Jahres, wir schreiben bereits das dritte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, hat Geert Lovink sich über die aktuelle Lage mit In der Plattformfalle zu Wort gemeldet, einem »Buch der Verzweiflung«, wie er selbst formuliert. Lovink nennt es den »siebten Band« seiner »Chroniken« zur laufenden Geschichte des Internet. Der erste dürfte dann Dark Fiber (2002) gewesen sein, worin bereits von einer »Befreiung« des Netzes aus den Händen seiner staatlichen und privatwirtschaftlich-oligopolistischen Gestalter die Rede war. Jetzt also »Rückeroberung«: Plädoyer zur Rückeroberung des Internets. Man kennt den Autor als Mitbegründer der »Netzkritik«, wie sie – wiederum 1995 – mit dem Launch von nettime.org begann. Lovink gehörte nie zu den blind euphorischen Netz-Propheten. Warum aber nun gleich »Verzweiflung«?
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