Heft 912, Mai 2025

Vergleichende Sternbildkunde

Zu Raoul Schrotts Himmelsatlas von Bernhard J. Dotzler

Zu Raoul Schrotts Himmelsatlas

Ich wollte glauben, dass der wolkenverhangene Mond auch mich ansah wie eine Pupille. Aber dort oben war nichts als ein silbriger Gesteinsbrocken. Eine endlose Felsenwüste ohne irgendein Leben.

Han Kang, Menschenwerk

Es ist hierzulande kein häufiger Anblick, aber manchmal hat man ihn doch: den Blick in eine klare Sternennacht. Heute sieht man dort oben – neben dem Polarstern an der Spitze des Kleinen Wagens, dem Großen Wagen darunter und dem, was der Laie sonst noch so kennt – nicht zuletzt Flugzeuge und Satelliten ihre Bahnen ziehen. Die Flugzeuge erkennt man am Blinken der Lichter und daran, dass man sie hören kann. Das Geräusch verrät ihre Ferne, aber auch dass sie, wie hoch oben auch immer, noch Teil der Erde sind. Glänzt dagegen einer der Satelliten herab, erscheint dieser entrückt wie ein Asteroid: lautlos im Weltraum.

Was aber sah man in früheren Zeiten, was erblicken die Augen anderer Kulturkreise, denen kein Orion, kein Widder und kein Schütze am Himmel leuchtet und für die sogar die Plejaden, obwohl als besonderer Asterismus geschätzt, eben doch nicht die Plejaden, nicht Alkione, Elektra, Maia und die anderen ihrer sieben Hauptgestirne sind? Dieser Frage ist seit 2021 das Sternenhimmel-Projekt der Stiftung Kunst und Natur gewidmet,1 dessen Krönung Raoul Schrott mit seinem Atlas der Sternenhimmel ins Werk gesetzt hat, einem Druckwerk so voluminös wie ein Messbuch: 1280 Seiten im Quartformat (26,7 mal 8,2 mal 31,5 Zentimeter).2 Man kann es auch nur an einem Pult oder vor sich auf einem Tisch wie auf einem Altar liegend öffnen und darin lesen – und niemand je wird es lesen: Wer auch immer es aufschlägt, wird sogleich verführt, darin zu blättern, die mit feinem Strich in die Sternenkarten hineingezeichneten Illustrationen zu bewundern, bei der einen oder anderen Textpassage hängenzubleiben, von da zu anderen Passagen zu springen, etwa um die Cassiopeia bei den Tuareg (Sternbild: das Pferd) und bei den Arabern (Sternbild: die Kamelstute) zu vergleichen, und wieder im reichhaltigen Bildmaterial sich zu verlieren.

Mutter aller Gestirne und Herz des Himmels

»Dieser Atlas war sechs Jahre in Arbeit«, steht im Impressum des Buchs. »Dieser Atlas versammelt 17 historische und indigene Sternenhimmel« aus sämtlichen Weltgegenden mit allen Sternbildern, Sternsagen und ihren Bedeutungen. Er umfasst die Sternenhimmel von südafrikanischen Buschleuten bis zu den brasilianischen Bororo, informiert die Rückseite des Einbands. Es handle sich, erläutert das Vorwort, um Rekonstruktionen »aus indigenen Zeugnissen und Aussagen, Sagen, Legenden und Mythen sowie weit verstreuten Berichten von Missionaren, Reisenden und frühen Ethnographen«. Diese Neuerschließung so gut wie schon erloschener Sternenhimmel habe es zu dokumentieren gegolten, weil »die Quellen dazu längst versiegt« seien, also wenigstens »das noch greifbare Material umfassend« habe präsentiert werden wollen.

Grafische Darstellung eines Sternbilds, über das der Umriss eines menschlichen Körpers gelegt wurde

Wo wir die Milchstraße sehen, sahen beispielsweise die alten Ägypter die »Mutter Aller Gestirne« in Gestalt einer »über uns gebeugten, uns anblickenden Frau, gehüllt in einen hauchdünnen Gazeschleier«. Die Navajo erkennen den »Blitzstrahl«, und ihr »Donner« erstreckt sich »fast rund um den ganzen Himmel, was ihn weltweit zum grössten bekannten Sternbild macht«. In der Denomination der Internationalen Astronomischen Union umfasst es die ptolemäischen Sternbilder des Pegasus und, in Teilen, der Fische, des Widders, des Walfischs, des Stiers und des Eridanus. Am Nachthimmel über China wiederum erstrahlt »Der Rote Vogel«, der es auf das Cover des Atlas gebracht hat: »Es stellt den mythischen Vogel Fenghuang dar, den man im Westen gerne als ›Phönix‹ wiedergibt«, und der, sofern man ihn als Glanzfasan identifizieren kann, eine »Verkörperung guter Omen« ist, weil »sich die in den Rhododendronwäldern des Himalayas und Sichuans lebenden Glanzfasane vor allem im Sommer [zeigten], wenn die im Frühjahr ausgesäte Saat heranreifte«.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors