Künstliche Künstliche Intelligenz
Vom Double zum Twin und Alien von Bernhard J. DotzlerVom Double zum Twin und Alien
Ab 2055 also ist es so weit. Die Menschheit befindet sich im Krieg gegen eine übermächtig gewordene KI. So erzählt es eines der jüngsten KI-Filmspektakel: The Creator. Die Menschheit wird darin vertreten durch die USA und ihre Militärs, die Über-KI durch ein frei erfundenes »New Asia«, fernöstliche Mönchsfolklore und menschenähnliche Roboter, die in diesem Film »simulants« heißen. Weil eine KI-gesteuerte Atombombe (freilich, wie sich herausstellt, gar nicht aus böser Absicht, sondern aufgrund eines »Programmierfehlers«) ganz Los Angeles ausradiert hat, soll »die KI« überhaupt besiegt und vernichtet werden. Das Lustige dabei ist nur, dass erstens ausgerechnet Los Angeles (oder die Filmindustrie) und nicht etwa Silicon Valley (oder das Zentrum aller IT-Avantgarde) Ground Zero geworden sein soll und dass zweitens das gesamte Waffenarsenal der Menschheitsstreitkräfte – die Kommandozentrale, die Sicherheitssysteme, die Drohnen etc. – seinerseits nichts als KI vor Augen führt, nur dass sie nicht aussieht wie jene so menschenähnlichen »simulants«. Hanebüchen im Ganzen, enthält die Story damit, wie noch jede Geschichte, doch auch ein Körnchen Wahrheit. Eine Form von KI im Clinch mit einer anderen, so kann man auch die aktuelle Situation der KI-Entwicklung umschreiben.
Rechenmaschinen und Intelligenz
In der Geschichte der Künstlichen Intelligenz seit den 1950er Jahren unterscheidet man mittlerweile zwischen den ersten Jahrzehnten einer guten alten KI – Good Old-Fashioned Artificial Intelligence, kurz: GOFAI – und dem heutigen Standard einer auf Künstlichen Neuronalen Netzen (KNNs) basierenden KI. Deren Erfolge wie ChatGPT, Midjourney oder auch DeepBach sind so durchschlagend, dass in der gegenwärtigen Informatik nur noch sie als KI gelten soll, während die alte, regelbasierte KI als lediglich »künstliche Künstliche Intelligenz« abgetan wird.
So jedenfalls findet man es im Zuge von Überlegungen zum derzeitigen »KI-Kunst-Goldrausch«, die da sagen: »Gleichzeitig haben Ausstellungen, die sich der KI-Kunst widmen, häufig einen Messecharakter. Sie stellen Arbeiten, die KI-Systeme nutzen, lediglich thematisieren oder sich an ihnen bloß im metaphorischen Sinne abarbeiten, nebeneinander. Ein Beispiel ist die Ausstellung AI: More Than Human (Barbican, London, 2019), die eine heitere Mischung aus technischen Demonstrationen, dekorativen Installationen […], ›genuiner‹ KI-Kunst und Werken, die eher dem Bereich der artificial artificial intelligence zugeordnet werden müssen, versammelt. Der Begriff artificial artificial intelligence bezeichnet dabei Objekte, die den Anschein erwecken sollen, von komplexen KI-Systemen gesteuert zu sein, in Wahrheit aber auf klassische Entscheidungsfindungsmethoden (if … then) zurückgreifen.«1
Von lediglich vorgetäuschter KI war aber auch zuvor schon die Rede. Als künstliche KI hat man auch Amazon Mechanical Turk (MTurk) und vergleichbare Crowdsourcing-Plattformen bezeichnet. Auf diesen Plattformen kann man dem System Aufträge erteilen, die auf leicht zu bewältigende (und schlecht bezahlte) »microtasks« heruntergebrochen wurden, die aber immer noch sogenannte »human intelligence tasks« sind, weshalb sie nicht maschinell, sondern von Clickworkern erledigt werden. Auch wenn man um diesen Tatbestand weiß, sieht es auf der auftraggebenden User-Seite so aus, als hätte der Rechner, an dem man sitzt, das Problem gelöst. Darum sprach Jeff Bezos von künstlicher KI: »Normally, a human makes a request to a computer, and the computer does the computation of the task. But artificial artificial intelligences like Mechanical Turk invert all that.«2
Mittlerweile hat sich die Sache dahingehend entwickelt, dass die Clickworker für bestimmte Aufgaben tatsächlich KI zu Hilfe nehmen, es sich also partiell um nur vorgetäuschte menschliche Leistungen handelt. Das wäre dann artificial artificial artificial intelligence.3 Doch tut nichts zur Sache, wie weit sich die Spirale noch drehen ließe. Interessant ist die Gleichsetzung von MTurk und alter KI (GOFAI) als bloß künstliche KI. Sie attestiert beiden ein Moment bloßer Scheinhaftigkeit. Immerhin gibt die Plattform dies in ihrem Namen schon zu erkennen. Der »Mechanische Türke«, das war der zuerst Kempelen’sche, dann Mälzel’sche »Schachtürke«, der das Publikum als Automat, der keiner war, düpierte. Was hingegen die KI betrifft, die alte wie die neue, so ist ohnehin umstritten, ob die Bezeichnung überhaupt zutreffend ist oder ob hier von »Intelligenz« zu sprechen nicht vielmehr in die Irre führt, weil es sich in Wahrheit doch nur um eine »Simulation kognitiver Prozesse« handelt, wie Herbert A. Simon einst einwarf. Oder im Falle der neuen KI: um statistische Systeme, um Mustererkennung oder schlicht Automatisierung – wobei die KI-Besonderheit ist, dass zur Automatisierung die Autonomisierung hinzukommt. KI besteht ja darin, dass das System selbständig Unterscheidungen und Entscheidungen trifft.
Demgegenüber ist zunächst festzuhalten, dass die Wortwahl durchaus ihre Berechtigung hat. Wenn anders Urteilskraft das entscheidende Kriterium ist – oder mit Kant: »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt« –, sind informationsverarbeitende Maschinen intelligent, anders als Kraftmaschinen, Uhrwerke, einfache elektrische Schaltkreise wie die für eine Deckenlampe. Ein Lichtschalter ist an oder aus, mehr nicht. Mit einem Bewegungsmelder dagegen, der das An oder Aus der Lampe bestimmt, erlangt der Schaltkreis so etwas wie Intelligenz. Verallgemeinert: Der kybernetische Regelkreis als Vorrichtung, die einen Istwert mit einem Sollwert abgleicht und befindet, welchen Stellwert sie aktiviert; Anordnungen von Schaltern, die das logische Und, das Oder, die Negation und dergleichen verkörpern; simple Programme, die Gegebenheiten (lateinisch: data) unterscheiden und nach Wenn-dann-Regeln weiter prozessieren können – all das sind Formen technisch ins Werk gesetzter Urteilskraft. Durch sie ist, um es mit einem berühmten Aufsatztitel zu sagen,4 alle Computing Machinery unweigerlich mit Intelligence assoziiert (in jedem Sinn des Worts), und alle Künstliche Intelligenz, auch die der KNN-Systeme, ist auf der Basis solcher Schaltintelligenz implementiert.
Konkret finden dafür – heute – vor allem Grafikprozessoren Verwendung, wie sie ursprünglich für die Computerspielindustrie entworfen wurden. Auch in diesem Bereich aber soll es interessanterweise eine Verwendung des KI-Begriffs im Sinne einer nur vorgetäuschten, einer künstlichen Künstlichen Intelligenz geben. »Game AI«, sagt die Fachliteratur, sei nicht dasselbe wie »computer science AI«. Die Computerspiel-KI diene lediglich der Gestaltung von »non-playable characters«, die auf die Spielzüge der Spieler und Spielerinnen reagieren. Hier geht es um »the creation of behaviors in a video game that give the impression of intelligent behavior on the part of the game’s player. Computer science AI is about substance. The goal is to actually solve problems that require intelligence. Game AI is about appearences.«5 Man könnte diese Spielfiguren mit den künstlichen intelligenten Wesen im Film vergleichen, wäre da nicht ein maßgeblicher Unterschied. Im Film sind fast alle intelligenten Maschinen Attrappe; all die Roboter, Androiden, Gynoidinnen und »simulants« beruhen genauso auf bloßer Schauspielerei wie die menschlichen Charaktere. All die Maschinenmenschen, die man von der Leinwand her kennt, sind gewissermaßen ihre eigenen body doubles. Die vorgetäuschte Intelligenz in Computerspielen hingegen muss durch die tatsächliche Schaltintelligenz ihrer Prozessoren vorgeführt werden. Die künstliche KI namens »Game AI« beruht gänzlich auf der tatsächlichen künstlichen Intelligenz elektronischer Schaltkreise.
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