Heft 862, März 2021

Karl Marx nach zweihundert Jahren

Historisierung, Kritik und Aktualität von Friedrich Lenger

Historisierung, Kritik und Aktualität

2018 bot der zweihundertste Geburtstag von Karl Marx Anlass zum Rückblick auf diese für die Entwicklung der Sozialwissenschaften wie des politischen Geschehens im 19.und 20. Jahrhundert gleichermaßen zentrale Gestalt. Wurde der kalendarisch gebotene Anlass enthusiastisch genutzt oder eher pflichtschuldig begangen? Schon hier gehen die Ansichten weit auseinander. Während der renommierte Wissenschaftsverlag Palgrave Macmillan im zeitlichen Umfeld eine neue Reihe begründete, deren Herausgeber optimistisch eine »Marx-Renaissance im Weltmaßstab« diagnostizieren, zeigten sich die Organisatoren einer Trierer Konferenz erstaunt, dass ihr »Kongress die einzige größere wissenschaftliche Veranstaltung mit internationaler Beteiligung im Jahr des Marx-Jubiläums« gewesen sei.1

Nun liegt in beiden Fällen auf der Hand, wie Eigeninteressen die Wahrnehmung trüben können. Dass ein Verlag kaum eine Reihe auflegen würde, die einem »toten Hund« gewidmet ist, überrascht nicht; ebenso wenig der Anspruch der Tagungsorganisatoren auf Alleinstellung, der sie sowohl eine gleichfalls im Mai 2018 abgehaltene und ungleich internationaler besetzte Konferenz am Hamburger Institut für Sozialforschung als auch einen gleichfalls an Marxens Geburtsort organisierten Workshop übersehen lässt, dessen Ergebnisse nun eine Bilanz versprechen: What’s Left of Marxism.2

Ohnehin ist die Frage, ob Marx im Jubiläumsjahr mehr oder weniger intensiv gewürdigt worden ist, nicht ohne Weiteres zu beantworten. Sie ist aber auch nicht so wichtig wie die Frage, wie lebendig sein Denken zu Beginn der 2020er Jahre denn noch ist. Jakob Tanner greift zu ihrer Beantwortung Niklas Luhmanns Rede von »den erloschenen Vulkanen des Marxismus« auf, konstatiert aber anders als dieser Rauch über den Vulkanen.3 Und wo Rauch ist, da ist auch Feuer, ein Feuer, dessen Flammen in Tanners autobiografisch gefärbter Bestandsaufnahme zwar in den 1960er und 1970er Jahren besonders hell loderten, für ihn aber bis heute nicht völlig erloschen sind.

Ein Blick auf die aus den beiden angesprochenen Trierer Tagungen hervorgegangenen Sammelbände erlaubt vielleicht eine erste Bilanz, die indessen in Rechnung stellen muss, dass die Beiträgerinnen und Beiträger ihren Gegenstand ganz unterschiedlich fassen. Während die einen bei Marx selbst angelegten Ideen nachspüren oder direkte Anknüpfungen analysieren, sprechen andere recht allgemein von marxianischen Themen oder auch von einer marxistischen Kultur, der dann mal eben »beinahe alles, das Italien zur Nachkriegskultur beitrug«, zugerechnet wird.4

Grundsätzlich bewegt sich die Auseinandersetzung mit Marx heute zwischen den Polen der Historisierung, der Kritik und der Aktualisierung. Dabei reicht Letztere von der oft recht apodiktischen Behauptung, bestimmte Elemente der Marx’schen Theorie – wie für Preben Kaarsholm etwa die Arbeitswertlehre und die Mehrwerttheorie – seien für das Verständnis der Gegenwart unverzichtbar, bis zu sich ganz unterschiedlich weit von Marx lösenden Reinterpretationen.5 Im Extremfall werden, wie im Fall der einflussreichen Bücher Thomas Pikettys, auch Arbeiten der Tradition zugerechnet, die zwar weder Marxens Grundkategorien weiterdenken noch sein unaufhörliches Ringen um begrifflich-theoretische Präzision teilen, aber im Interesse am Kapital(ismus) und an Problemen der sozialen Ungleichheit eine thematische Verwandtschaft erkennen lassen.

Von den drei angesprochenen Polen hat der der Historisierung in den letzten Jahren sicherlich die massivste Stärkung erfahren.6 Das liegt zum einen daran, dass die philologische Arbeit große Fortschritte gemacht hat und die vorliegenden der auf 114 (Doppel)Bände veranschlagten Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) die Werkdeutung immer stärker prägen. Zum andern zielen die beiden wichtigsten im Vorfeld des Jubiläumsjahrs vorgelegten Biografien von Jonathan Sperber und Gareth Stedman Jones beide darauf, ihren Gegenstand ganz im 19. Jahrhundert zu verorten.7 Während sich so angelegte Gesamtdeutungen gegen eine Aktualisierung eher sperren, ist das bei der philologischen Kärrnerarbeit nicht notwendig der Fall.

Wie überzeugend sie ausfällt, kommt ganz auf den Einzelfall an. So leuchtet etwa Warren Breckmans Rekonstruktion eines schon in den frühen 1840er Jahren erkennbaren ökologischen Marx durchaus ein, der eben nicht erst in der sehr viel späteren Beschäftigung mit Justus von Liebig und anderen Naturforschern »das Motiv des Stoffwechsels zwischen Natur und menschlicher Zivilisation« entwickelt hat.8 Andererseits vermag das Studium einiger Exzerpthefte zu zwei Historikern des 19. Jahrhunderts, so interessant Marxens Beschäftigung mit ihnen zu Beginn der 1880er Jahre auch ist, kaum die These zu erhärten, bei ihm fände sich eine nichteurozentrische Konzeption von Weltgeschichte.9

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