Heft 905, Oktober 2024

Krise ohne Alternative

von Oliver Weber

I.

»Nö«. – So lautete die Antwort des Bundeskanzlers auf die Frage einer Journalistin am Wahlabend, ob er die Ergebnisse der Europawahl kommentieren wolle. Ein paar Stunden vorher war bekannt geworden, dass die SPD ihr Ergebnis aus dem Jahr 2019 noch einmal unterbieten wird – bis dato das schlechteste gesamtdeutsche Resultat der Sozialdemokraten seit dem Jahr 1890. Gravierend fiel auch der Vergleich zur letzten Bundestagswahl aus: Mindestens sechs Millionen Menschen, die vor drei Jahren ihr Kreuz bei der SPD gemacht hatten, wählten nun entweder gar nicht oder entschieden sich für eine andere Partei. Dass ein solcher Verlust von Wählerstimmen und dem damit einhergehendem Wählervertrauen nicht dauerhaft unkommentiert bleiben kann, hat Olaf Scholz in den Wochen nach der Wahl offenbar eingesehen und seine anfängliche Kommunikationsverweigerung inzwischen aufgegeben – allerdings nur in einem sehr formalen Sinn.

Wenn er auf Pressekonferenzen und bei Regierungserklärungen nun über mögliche Lehren aus der Niederlage seiner Partei spricht, dann hört man immer noch dasselbe »Nö« tönen – nur klingt es jetzt anders und ist besser versteckt. Es heißt dann etwa: Man dürfe einerseits »nicht einfach zur Tagesordnung übergehen«, müsse andererseits aber jetzt erst recht »seine Arbeit machen«; man solle sich aufgrund der Stimmgewinne rechtspopulistischer Parteien »Sorgen machen«, gleichzeitig gäbe es aber weiterhin »eine klare Mehrheit in Europa«, die den Status quo mitträgt; Krisen hätten zwar zugenommen und die Bevölkerung nehme das auch wahr, aber nun brauche es in erster Linie Zuversicht und in zweiter Linie weniger dramatisierende Kritik.

Alles wird schlimmer – aber alles muss auch ungefähr so weiterlaufen, wie es jetzt läuft: So könnte man den sachlichen Kern dieser paradoxen Formulierungen zusammenfassen. Anders als bei anderen politischen Rhetoriken wird hier nicht versucht, einen miserablen Sachverhalt zu beschönigen oder ein offenkundiges Problem zu beschweigen, ja, dass die Lage der Dinge im Allgemeinen Sorge bereiten muss, wird sogar frei heraus zugestanden. Nur scheint die Konklusion, die daraufhin folgt, nicht zur Prämisse zu passen. Würde man erwarten, dass aus einer dramatischen Beschreibung der Situation auch eine dramatische Konsequenz gezogen wird, verspricht die Redeweise des Bundeskanzlers im Wesentlichen besonnene, vielleicht noch verstärkte Fortsetzung des Bisherigen. Diese Fähigkeit, eine rhetorische Brücke zwischen Problembeschreibung und Lösungsidee zu schlagen, obwohl beide himmelweit auseinanderklaffen, ist jedoch nicht auf das politische Spitzenpersonal beschränkt: Es handelt sich hier um ein generelles Merkmal des nun schon seit über einem Jahrzehnt blühenden Krisendiskurses, den liberale Demokraten zur Rettung der liberalen Demokratie mit sich selber führen.

Zunächst wird immer ein düsteres Bild gezeichnet. So beobachten etwa Armin Schäfer und Michael Zürn in ihrem vor drei Jahren erschienenen Buch eine »neue Welle demokratischer Regression«, bei der auch in etablierten Demokratien nicht mehr ausgemacht sei, dass sie sich in Zukunft durch faire und freie Wahlen, eine plurale Öffentlichkeit, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit auszeichnen würden. »War der Verfall der Demokratie lange Zeit etwas, das aus der Perspektive von Westeuropäerinnen nur in fernen Ländern stattfand, kommen die Einschläge nun näher.« Ursache hiervon sei eine »doppelte Entfremdung von der Demokratie«: Einerseits habe sich die »Distanz der demokratischen Praxis vom Ideal der kollektiven Selbstbestimmung« vergrößert, »weil Entscheidungen in nicht durch Wahlen legitimierte und kaum durch die Bürgerinnen kontrollierte Gremien verlagert werden« – etwa wenn Zentralbanken das wirtschaftspolitische Geschick bestimmen. Andererseits wenden sich auch immer mehr Bürger von der Demokratie ab, »weil sie sich nicht länger repräsentiert fühlen«. Sie haben den Eindruck, dass das demokratische Spiel gezinkt ist. Hier habe der »autoritäre Populismus« seinen Ursprung. Er profitiere davon, dass weite Teile der Bevölkerung diese »Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit« der Demokratie wahrnehmen und glauben, ihre Interessen nur gegen die etablierten Prozeduren durchsetzen zu können.

Aber wie ist dem Gebrechen abzuhelfen? Schäfer und Zürn diskutieren, wie viele andere Autoren dieses Genres, eine ganze Liste zweckdienlicher Antworten: Zunächst müsse man weiteren »technokratischen Versuchungen« widerstehen und wieder »den Bürgerinnen vertrauen« lernen, was mindestens bedeutet, demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht weiter zu beschränken. Nachdenken könnte man auch über sogenannte »Mini-Öffentlichkeiten«, also deliberative Bürgerversammlungen, die den etablierten Entscheidungsmechanismen an die Seite gestellt werden, während die Parteien versuchen sollten, unterrepräsentierte Bürger gezielt zu rekrutieren. Die nicht gewählten, aber überaus mächtigen Institutionen wie Zentralbanken müssten demokratischer werden, indem sie etwa in Umfragen »Bürger konsultieren«. Der Europawahl hingehen würde die Einführung eines diesmal auch durchzuhaltenden Spitzenkandidatenprinzips und die Transnationalisierung der Wahllisten weitere Legitimation verschaffen, womöglich könnte man auch europaweite Referenden in Aussicht stellen, bei denen allerdings »Verteilungsfragen« außen vor bleiben müssten. Schließlich würde auch mehr »kosmopolitische Leidenschaft« und ein wenig »Ambiguitätstoleranz«-Training in den Schulen nicht schaden. Denn: »Die Verteidigung der Demokratie erfordert mehr Demokratie.«

Auffällig ist, dass das Autorenduo – analog zur Rhetorik des Kanzlers – in der Rolle des Kritikers in einer weitaus schärferen Tonlage spricht als in der Rolle des Politikberaters. Wurde auf beinahe zweihundert Seiten zuvor die fundamentale Gefahr beschworen, der liberale Demokratien gegenwärtig ausgesetzt sind, und ausführlich beschrieben, wie die Globalisierung seit den 1990er Jahren die majoritären Entscheidungsspielräume immer weiter verengt hat, bis es zum Ausbruch einer »Repräsentationskrise« kam, die nun ihr hässliches Gesicht zeigt, fällt das Endkapitel recht unaufgeregt aus. Ein paar Reförmchen hier und da, so lernt man auf den letzten Seiten, sind bedenkenswert, wenn man beabsichtigt, das Problem zumindest zu verkleinern. Die Krise scheint so einschneidend also nicht zu sein, dass nun grundsätzliche, strukturverändernde Entscheidungen diskutiert werden müssten.

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