Liebe, Sex und Prostata
von Werner KraußDiagnose
Die Abmachung galt, dass mein Urologe mir die Ergebnisse nur mitteilt, wenn die Werte auffällig sind. Es war ein Sommernachmittag, mitten im blühenden Leben bei den Enkelkindern, ich saß im Kinderzimmer vor dem Bildschirm, eine Zoom-Konferenz über ein neues Projekt, die Familie im Wohnzimmer – und ein Anruf auf dem Handy. Es dauerte kurz, bis ich den Anrufer identifizieren konnte, ich wurde noch nie privat von einem Arzt angerufen. Meine PSA-Werte seien etwas hoch, ich solle mir keine Sorgen machen, eine kleine Abweichung, die viele Ursachen haben könne. Aber dennoch solle ich möglichst bald einen Termin in der Praxis machen. Ich behielt die Nachricht für mich an diesem Nachmittag und auch noch einige Tage länger, wusste nicht, wohin damit und wie damit umgehen. Der begründete Verdacht, dass der Satz, vor dem sich alle fürchten, nun auch auf mich zutraf: Jetzt gehöre ich zu denen, die Krebs haben. Nur Prostatakrebs, wie man schnell lernt, gut behandelbar, operabel, hohe Heilungschancen, keine Chemo. Nur Prostatakrebs, das kriegen wir in den Griff.
Die Krebsdiagnose ist ein standardisierter Prozess, ein Schritt folgt auf den anderen, der Urologe ist eigentlich nur Moderator und manchmal Erklärer. Erst ein MRT, ein bildgebendes Verfahren, bei dem ein winziger schwarzer Punkt auf der Prostata einen Tumorverdacht nahelegt. Darauf folgt eine Knochenszintigraphie, um zu sehen, ob der Krebs schon gestreut hat, und schließlich ein CT, bei dem die Organe gecheckt werden. Standardisierte Verfahren sind entpersönlicht, man geht in Radiologien und Arztpraxen aus und ein und ist dankbar für jede Auskunft. Am Ende gesellt sich ein Gleason-Score, der über die Bösartigkeit des Tumors Auskunft gibt, neben den Blutwert des PSA-Tests, eine Tabelle entscheidet über das weitere Schicksal. Der Arzt ist und bleibt Moderator dieses Prozesses, Fragen erübrigen sich, das Internet gibt wie üblich beredt Auskunft und stürzt einen verlässlich in die inneren Kreise von Dantes Hölle. Operation im besten Fall, Inkontinenz und Impotenz stehen drohend am Horizont.
Die Untersuchungen ziehen sich über ein halbes Jahr hin, am Ende steht die Biopsie, die letzte Klarheit verschafft. Ein dicker Stab wird in den After eingeführt, von dessen Ende aus mit Nadeln zwölf Proben aus der Prostata entnommen werden, ein sehr unangenehmes, wenn auch nur bedingt schmerzhaftes Verfahren. Viele Männer haben schon vor der routinemäßigen Tastuntersuchung der Prostata beim Urologen Angst, die im Wartezimmer unter Männern auch »die kleine Hafenrundfahrt« genannt wird – obwohl Analverkehr eigentlich längst enttabuisiert und die Prozedur mehr als harmlos ist.
Kurzum, die Biopsie ist von anderem Kaliber, selbst die coolen weiblichen medizinischen Fachangestellten sendeten mir mitleidige Blicke zu. Ich schlich nach der Prozedur an der Rezeption vorbei in den Regen hinaus, nahm ausnahmsweise den Bus und kam gedemütigt und fertig zuhause an. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten, die meisten Teile der Prostata waren von Krebs befallen, das Urteil war gefällt.
Die Gespräche mit dem Urologen sind durchgehend auf fünf Minuten begrenzt, es gibt nicht viel zu sagen, man hat die Wahl zwischen Hormon- beziehungsweise Strahlentherapie und Operation, und hier zwischen normaler und robotergesteuerter Operation. Auch diese Frage beantwortet sich von selbst, Operation, und da ich in Hamburg wohne, in der Martini-Klinik. Ein Klaps auf die Schulter, das wird schon, ist auch nicht schlimmer als eine Blinddarmoperation. Als ich sage, am meisten habe ich vor dem Katheter Angst, lacht der Urologe und meint, das sei nun mal das geringste Problem. Danach folgt wieder eine Wartezeit von zwei Monaten, bis ein Termin in der Klinik frei ist.
Nach der Biopsie ist Vorsicht angesagt, kein Fahrradfahren, kein Geschlechtsverkehr, die Prostata wird bei der Biopsie doch erheblich verletzt, angestochen eben. Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass man bald kein Sperma mehr produzieren wird. Eine Operation heißt auch Abschiednehmen. Die letzte Begegnung mit meinem Sperma hatte etwas Endgültiges: Es ergoss sich blutrot, ich schrie auf wie in einem Alptraum, nur dass er real war, die Zeitspanne seit der Biopsie war wohl noch zu kurz gewesen. Was für ein Abschied.
Operation
Kurz vor dem Operationstermin bekam meine Frau Corona und floh ins Hotel, um mich nicht anzustecken. An einem Freitag musste ich in die Martini-Klinik für die Voruntersuchungen, am darauffolgenden Montag sollte ich operiert werden. Ich saß mit anderen Männern in einem Wartebereich der Klinik, zwei hatten ihre Frau dabei. Eine Schicksalsgemeinschaft, die einen Tag miteinander verbrachte, von Untersuchung zu Untersuchung mit langen Wartezeiten dazwischen. Männer unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft, alle mit von Krebs befallener Prostata, manche hatten schon ein Rollköfferchen dabei.
Auf dem Flur liefen bleiche Männer in Krankenhaushemden am Arm von Pflegern mit wackligen Beinen auf und ab, den Urinbeutel in der Hand. Seltsame Gespenster, in Kürze stehen wir an ihrer Stelle. Keine guten Aussichten. Ob ich noch Sperma einfrieren lassen wolle? Häkchen bei nein. Die rechtliche Aufklärung, eine junge Assistenzärztin malt einen Penis, einen Hodensack, eine Prostata, erklärt Risiken und muss sich beim Ultraschall von einer erfahrenen Kollegin helfen lassen.