Heft 868, September 2021

Moralisierung

von Felix Heidenreich

Am 27. Februar 2021 publizierte Jacques Schuster, der »Chefkommentator« der Welt, unter der Überschrift Wie Moral zum Totschläger der Debattenkultur verkommt einen Leitartikel in apokalyptischer Tonlage: »Immer schonungsloser wird in politischen Debatten das Gewissen als scharfrichterliche Instanz eingesetzt. Die Folgen sind verheerend: für den Westen, die Meinungsfreiheit und für die offene Gesellschaft.« Nicht nur wenn es um sexuelle Fantasien gehe, so Schuster, sei »political correctness« fehl am Platz. Der gesamte öffentliche Diskurs werde unter zu viel Moral erstickt.

Mit der Überzeugung, moralische Argumentationen drängten in Felder und Sphären ein, in denen sie kategorial fehl am Platz seien und daher nur Schaden anrichteten, steht Schuster nicht allein. Der Gedankenfigur von der unstatthaften »Moralisierung« kann man seit vielen Jahren und zugleich in ganz verschiedenen Kontexten begegnen. Ein Satz wie der Folgende von Jan Grossarth ist nur ein Beispiel von vielen: »Die Grünen moralisieren die Diskussion um Pestizide.« Ein beliebiges anderes Beispiel: »Moralkeule. Wir müssen aufhören, alles zu moralisieren« (Anna Gauto in der Wirtschaftswoche vom 21. November 2015). Begriffe wie »Moralkeule« zeigen an, dass man den Einsatz moralischer Argumente als Kategorienfehler betrachtet. Und dies keineswegs nur am rechten Rand des politischen Spektrums: So formulierte Jakob Augstein, in der Debatte um die Corona-Maßnahmen werde »moralisiert«, vor allem durch den Hinweis auf die rund 80 000 Toten, die zu diesem Zeitpunkt bereits zu beklagen waren.

Moralkritik und Moralisierungskritik

Der Begriff »Moralisierung« ist relativ neu. Zwar gibt es eine vormoderne Bedeutung, nämlich die Praxis einer hermeneutischen Erschließung eines sensus moralis, bei der dunkle Bibelstellen auf ihren moralphilosophischen Gehalt befragt werden. Aber anders als in der zeitgenössischen Verwendung geht es dabei um das Aufzeigen eines verborgenen Sinns, der tatsächlich existiert (oder als existent imaginiert wird), nicht um die fehlerhafte Applikation moralischer Kategorien.

In diesem genuin modernen Sinn impliziert die Semantik von »Moralisierung« auch mehr als eine allgemeine Kritik an Moralität. Schließlich findet sich eine solche allgemeine Kritik der Moral in der europäischen Ideengeschichte an zahlreichen Stellen, so dass man von einer ganzen Traditionslinie europäischer Moralkritik ausgehen darf. Elaborierte Argumentationen gegen Moral beginnen mit der Debatte zwischen Sokrates und den Gorgias-Schülern Thrasymachos und Kallikles, die für das Recht des Stärkeren plädieren. Diese beiden lässt Platon Gedanken formulieren, die wir heute vor allem mit Nietzsche assoziieren. In Zur Genealogie der Moral (1887) nimmt er bekanntlich eine geradezu wissenssoziologisch anmutende Perspektive ein: »Moral« diene der Unterdrückung der wenigen Starken durch die vielen Schwachen. Judentum und Christentum erweisen sich aus dieser Perspektive als hinterhältige Machttechniken.

Aber Moralisierungskritik ist etwas ganz anderes als Moralkritik. Im einen Fall geht es darum, Moral in Bausch und Bogen abzulehnen, im anderen jedoch darum, der Moral einen spezifischen Ort zuzuweisen, vor allem: sie aus der Politik auszuschließen. Nicht moralische Kommunikation an sich wäre also das Problem, sondern deren Einsatz auf falschen Feldern. Auch diese zweite, spezifischere Gedankenfigur hat eine lange Vorgeschichte. Eine solche Reflexion über den amoralischen Charakter von Politik finden wir in Machiavellis Principe oder auch in Hobbes’ Leviathan, der als ein Plädoyer für die Ausdifferenzierung von Politik und Moral gelesen werden kann.

In einer Hobbes-Welt gilt zwar pacta sunt servanda, aber eine Berufung auf eine göttliche Ordnungsvorstellung entfällt durch die konsequente Immanentisierung der Staatslegitimation. Menschen streben hier nicht danach, gut zu sein, sondern ihr Leben zu erhalten – jenseits aller Moral. Die sich über Jahrhunderte aus diesem Grundgedanken entfaltende konsequente Ausdifferenzierung von Recht und Moral gilt aus guten Gründen als Signum der Moderne. Statt das Rechtssystem mit dem Anspruch zu überlasten, Gerechtigkeit herstellen zu wollen, begnügt man sich mit dem realistischeren und weniger gefährlichen Ziel der zuverlässigen und regelbasierten Rechtsprechung.

»Moralisierung« – ein deutsches Narrativ?

Diese kurze Skizze sollte nicht den Umstand verdecken, dass wir es beim Narrativ der »Moralisierung« mit einer komplexen und spezifisch deutschen Semantik zu tun haben. Ich würde als erste Orientierung die Unterscheidung von drei Dimensionen der Moralisierungskritik vorschlagen. Eine erste Variante erklärt Moral als an sich problematisch. Moralische Kommunikation dient demnach als ideologische Form der Machtausübung. Eine zweite Variante präzisiert diese bei Nietzsche formulierte Latenzbeobachtung in einem psychoanalytischen Vokabular. Eine Handlung zu »moralisieren« würde demnach bedeuten, eine unbewusste, neurotische Rechtfertigung eines eigentlich ganz anders, beispielsweise narzisstisch, motivierten Verhaltens zu produzieren. Der »Tugendstolz« zielt dann eigentlich auf eine Selbsterhöhung, gar nicht auf das moralische Handeln selbst: Seht her, wie moralisch ich doch bin! Eine dritte, spezifisch soziologische Variante bezeichnet mit »Moralisierung« die Anwendung moralischer Kategorien in sozialen Kontexten, in denen diese Kategorien nicht angemessen sind.

Wer eine Schneise durch ein unübersichtliches Feld schlagen will, tut gut daran, Orientierungspunkte zu wählen. Vier Stationen sind aus meiner Sicht bis heute von besonderer Relevanz: Hans Freyers Antäus – Grundlegung einer Ethik des bewussten Lebens«(1918), Carl Schmitts Die Tyrannei der Werte (1959), Arnold Gehlens Moral und Hypermoral (1969) und schließlich Niklas Luhmanns Paradigm Lost (1989). Zusammen bilden sie jene meist unthematisierte Hintergrundfolie, die die omnipräsente Kritik an der »Moralisierung« erst plausibel erscheinen lässt. Als Theoriestrang ist diese Linie in besonderem Maß mit der Zeitgeschichte verwoben.

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