Heft 909, Februar 2025

Neo-Kontagionismus in Krisen

Ansteckung als Syndrom von Caspar Hirschi

Ansteckung als Syndrom

Krisen entstehen durch Ansteckung. Es hätte keine Pandemie gebraucht, um dieser Sicht zum Durchbruch zu verhelfen. Sie war in wissenschaftlichen Kreisen schon verbreitet, als die erste Welle des Covid-19-Virus über die Welt rollte. Ob Desinformationskampagnen oder Drogensucht, Börsen-Crashs oder Bankenkollapse, Seuchen oder Krieg, überall werden Ansteckungsketten mit exponentiell steigendem Schadenspotential diagnostiziert und modelliert, mit dem Ziel, sie so früh wie möglich zu unterbrechen.

Es geht in diesen verschiedenen Krisenfeldern, so der Anspruch, nicht um ein Sprechen in bildkräftigen Metaphern, sondern um das Abbilden der harten Realität. »Gewalt ist eine ansteckende Krankheit«, postuliert der Epidemiologe Gary Slutkin: »Sie erfüllt die Definition einer Krankheit und der Ansteckungsfähigkeit – das heißt, Gewalt wird von einer Person auf eine andere übertragen.« Dass die Aussage wörtlich zu verstehen ist, verdeutlicht Slutkin mit einem Vergleich: »Krankheitserreger können über die Atemwege, den Darm, die Haut oder andere Wege eindringen und dann Funktionsstörungen oder Fehlregulationen in einem oder mehreren Organen verursachen. Im Fall von Gewalt haben wir es mit einem Prozess zu tun, der eindeutig durch das Gehirn vermittelt wird, wobei die Übertragung auf mindestens zwei Wegen zu erfolgen scheint: visuelle Beobachtung und direkte Viktimisierung. Ein dritter Mechanismus kann als absichtliches Training, zum Beispiel durch das Militär, angesehen werden.«1

Slutkin gehört zu den Gründern von »Cure Violence«, einer 1999 in Chicago lancierten Initiative mit wissenschaftlichem Anspruch, die Gewaltherde nach dem Vorbild der Eindämmung von Epidemien »heilen« möchte. »Cure Violence« etablierte sich mit Unterstützung des amerikanischen Justizdepartements und der UNICEF zu einer globalen Organisation mit Projekten in zahlreichen Städten der Vereinigten Staaten und mehreren Ländern auf fünf Kontinenten. Slutkins eigene Gewaltexpertise ist von epidemiologischer Feldarbeit abgeleitet. In den 1980er Jahren bekämpfte er Seuchen in mehreren afrikanischen Ländern, darunter Cholera-Ausbrüche in Somalia und die Aids-Epidemie in Uganda. Auf die Idee, dass die räumliche Häufung von Gewalttaten den gleichen Gesetzen gehorche wie die Ausbreitung ansteckender Krankheiten, kam er erst nach der Rückkehr in die Vereinigten Staaten, als er Mitte der neunziger Jahre an der Universität von Illinois eine Professur für Epidemiologie antrat. Er betrachtete die Gewaltviertel von Chicago durch die gleiche Brille wie Seuchengebiete in Afrika.

Um die Identität der Krisenmechanismen zu illustrieren, brachte er einzelne Gewaltereignisse mit den klassischen Visualisierungsmethoden der Epidemiologie in einen Zusammenhang. Er bildete die Frequenz von Tötungen auf einer Zeitachse ab, so dass der Eindruck von »Gewaltausbrüchen« mit einer anschließenden »Epidemie von Morden« entstand, die sich in mehreren Wellen ausgebreitet habe. Und er trug die Schauplätze von Gewaltverbrechen auf einer geografischen Karte ein, so dass sich Delikte, die in räumlicher Nähe zueinander verübt wurden, zu Gewalt-Clustern verdichteten wie beim Ansteckungsherd einer Cholera-Epidemie. Slutkins kartografische Inszenierung der Schießereien und Tötungen in Chicago von 2008 erinnert denn auch an die legendäre Karte des Londoner Stadtteils Soho aus dem Jahr 1854, auf welcher der Arzt John Snow die Wohnorte aller Todesopfer eines Cholera-Ausbruchs eingetragen hatte. Snow wollte mit der Karte den Nachweis erbringen, dass sich die Krankheit über eine verseuchte Wasserpumpe ausgebreitet habe und Cholera damit eine ansteckende Krankheit sei.2

Der Kontagionismus war im 19. Jahrhundert eine Theorie mit beschränktem Geltungsanspruch und, zumindest bei seinen Gegnern, mit reaktionärem Geruch. Er wurde allein auf Gesundheitskrisen bezogen und stand bei liberalen Medizinern auch nach Snows Publikation oft im Ruf der wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Rückständigkeit. Kontagionisten sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, einem despotischen Staat mit uneingeschränkten Machtbefugnissen das Wort zu reden, um Quarantänen und Handelssperren im Stile frühneuzeitlicher Herrscher im Kampf gegen die Pest zu verhängen.

Der Neo-Kontagionismus von heute jedoch ist eine Universaltheorie zur Beschreibung und Bewältigung von Gefahren mit krisenhaftem Eskalationspotential und hat in vielen Politikfeldern den Geschmack der wissenschaftlichen Fundiertheit und politischen Fortschrittlichkeit. Da Neo-Kontagionisten unterschiedlicher Disziplinen aber kaum als geschlossenes Denkkollektiv auftreten, werden sie auch selten als Einheit wahrgenommen, so dass der weitreichende Geltungsanspruch ihres Ansatzes bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten hat. Um dessen Dimension zu erfassen, muss man zu einem Buch greifen, das im Windschatten der Covid-Pandemie auf Englisch und Deutsch erschienen ist: The Rules of Contagion des britischen Epidemiologen Adam Kucharski.3 Kucharski ist ein ebenso kundiger wie unkritischer Anhänger des Kontagionismus, den er schon deshalb nicht als solchen bezeichnet, weil es sich dabei in seinen Augen um ein Naturgesetz und keine Weltanschauung handelt. Sein Buch wirkt wie der Bericht einer Entdeckungsreise zu Schauplätzen, auf denen sich Ansteckendes abspielen soll.

Eine Anthropologie der Nachahmung

Kucharski verhilft auch Slutkin und seinem Gewaltheilungsprojekt zu einem prominenten Auftritt. Er präsentiert ihn als neuen John Snow einer medizinisch gewendeten Kriminologie für das 21. Jahrhundert. Wie Snow die falsche Miasmenlehre von der »schlechten Luft« als Krankheitsursache bekämpft habe, so bekämpfe Slutkin die Fehldiagnose vom »schlechten Menschen« als Gewaltursache. Mit seiner wissenschaftlichen Entschlüsselung der Ansteckungsketten zwischen den Schießereien in Chicago bestelle er ein Feld neu, das »im Moralismus feststecke« und Menschen im Zusammenhang mit Gewalt nach dem Kriterium einteile, wer gut und wer böse sei. Slutkins Krisendiagnose wird entsprechend als Sieg der wissenschaftlichen Wahrheit über »moralistische Diagnosen« sowie als Möglichkeit gesehen, langwierige »Probleme der Menschheit« endlich zu lösen. Zu diesen Problemen zählen Kucharski und Slutkin nicht bloß chronisch hohe Verbrechensraten in bestimmten Stadtvierteln, sondern auch akute Gewaltausbrüche mit hoher Infektiosität, kurzer Inkubationszeit und tiefer Immunität, mit anderen Worten: Krieg. So erscheint der Erste Weltkrieg bei Slutkin als eine tödliche Seuche, die sich nach ihrem Ausbruch noch rascher ausgebreitet hat als die Spanische Grippe ein paar Jahre später.

Dass der neue Kontagionismus wörtlich verstanden werden will, hängt mit dem Versprechen seiner hohen Problemlösungsfähigkeit zusammen. Es geht darum, reale Ansteckungsketten wissenschaftlich zu erfassen und einzudämmen. Wäre »Ansteckung« nur eine heuristische Metapher, um auf Ähnlichkeiten von sozialen Dynamiken in verschiedenen Gesellschaftssystemen aufmerksam zu machen, könnte kaum ein legitimer Anspruch erhoben werden, zur Unterbrechung von Ansteckungsketten massiv ins gesellschaftliche Gefüge einzugreifen. Im gleichen Licht ist auch die Überzeugung zu sehen, mit dem Neo-Kontagionismus trete ein wissenschaftlicher Umgang mit hohen Schadensrisiken an die Stelle eines alten Moralismus, der nach Sündern suche und Strafen verhänge. Sie stützt sich auf ein methodisches Vorgehen, das auf der Erhebung großer Datenmengen beruht, die sowohl für die Modellierung eines möglichen Infektionsgeschehens in der Zukunft als auch für die Überprüfung der eindämmenden Wirkung von Gegenmaßnahmen in der Vergangenheit genutzt werden können. Dadurch wird es theoretisch möglich, sich selbst und der Welt konstant Rechenschaft abzulegen, welche Zuverlässigkeit die eigenen Prognosen und welche Wirksamkeit die daraus abgeleiteten Interventionen haben. Die laufende Datenverarbeitung wird zum Fundament einer Politik des wissenschaftlichen Engineerings.

Der Wissenschaftshistoriker Robert Peckham hat die aktuell vorherrschende Auffassung von Finanzkrisen als Ansteckungsereignissen mit einem »biological turn« in den Wirtschaftswissenschaften während der 1990er Jahre in Verbindung gebracht.4 Für den Neo-Kontagionismus insgesamt gilt, dass mikrobiologische Gesetzmäßigkeiten in menschliches Handeln hineingelesen werden, mit dem Ziel, umso präziser und effektiver ins Gesellschaftsgefüge eingreifen zu können. Dabei entgeht den Neo-Kontagionisten jedoch etwas Entscheidendes, das sich bereits am alten Kontagionismus beobachten lässt: Krisen als außer Kontrolle geratene Ansteckungsverläufe zu verstehen und zu bekämpfen, läuft nicht auf das Ersetzen einer alten Moral durch die Wissenschaft, sondern auf das Durchsetzen einer neuen Moral hinaus. Es spielt dabei keine Rolle, ob an der Exaktheit der Diagnose und an der Wirksamkeit der Therapie Zweifel bestehen oder nicht. Im Vorschlag etwa, man solle Personen, die »in der aktuellen Literatur als Täter und als Opfer bezeichnet« werden, von nun an »gewaltinfiziert« (»violence infected«) nennen, steckt mehr als eine Hilfestellung zum besseren Verständnis von Gewalttaten. Es geht ebenso um ihre moralische Neubewertung, indem einzelne Gewalthandlungen datengestützt kontextualisiert und alle Betroffenen pathologisiert werden.

Grundlage der neo-kontagionistischen Moral ist eine ebenso simple wie triste Anthropologie. Ihr zufolge besteht der Antrieb des menschlichen Handelns in der Nachahmung anderer Menschen. Wir sind Konformisten mit kollektiver Individualitätsillusion, Lemminge mit falschem Bewusstsein. In Situationen der Not hat uns der Herdentrieb besonders im Griff. Grippewellen und Gewaltexzesse, Hamsterkäufe und Panikverkäufe sind bloße Spielformen desselben mimetischen Verhaltens.

Die Moral des Neo-Kontagionismus hat direkte Konsequenzen für den Umgang mit Krisen. Wird bei einer Problemlage die Hauptgefahr in exponentiell steigenden Infektionsraten gesehen, ist ein Ethos der sofortigen Intervention zur Unterbrechung von Ansteckungsketten gefragt. Bei der Wahl der Maßnahmen zählt Geschwindigkeit mehr als Präzision und Durchschlagskraft mehr als Verhältnismäßigkeit. Das Risiko des Übersteuerns lässt sich stets mit dem Gegenszenario legitimieren, ein zu spätes oder zu schwaches Eingreifen würde zu noch höheren Schäden und härteren Maßnahmen führen. Ebenso gehört zu dieser Moral, aus der Gesamtrealität der Krisensituation eine möglichst übersichtliche Problemstellung herauszuschneiden, mit der sich alle Aspekte, die der raschen Intervention in die Quere kommen würden, ausblenden lassen. Wo neo-kontagionistische Rezepte zur Anwendung kommen, stört das Interesse für die Ursachen einer Krise, und jede langfristig ausgerichtete Moral, welche die Folgen einer Krise gegen die bleibenden Kollateralschäden der Krisenintervention abwägt, erscheint bestenfalls nachrangig. Es handelt sich um eine Moral der maximalen Wirkung auf kurze Frist, verankert in einem negativen Krisenbegriff, der auf das Potential von Schäden, nicht aber von Chancen zu langfristigen Veränderungen in außerordentlichen Situationen fixiert ist.

Die Kluft zwischen Problembeschreibung und Problembehandlung

Auffällig am Neo-Kontagionismus ist, dass der Anspruch auf Objektivität in der Problembeschreibung mit einer Vielfalt an Methoden in der Problembehandlung einhergeht. »Cure Violence« etwa setzt auf eine Aufgabenteilung zwischen drei verschiedenen Rollen. Den Hauptpart spielen »Gewaltunterbrecher« (»violence interrupters«), nicht nur auf der Straße, sondern auch im Film. Die Dokumentation The Interrupters von 2011 stellte sie als friedliche Helden im Kampf gegen die Kriminalität dar und verlieh dem Projekt wertvolle Publizität. Sie machen potentielle Konfliktherde ausfindig, verhindern Ansteckungen und isolieren »Infizierte«. Die Nebenrolle kommt den »Verhaltensänderungsagenten« (»behavioral change agents«) zu. Sie immunisieren vulnerable und exponierte Menschen, indem sie etwa Drogensüchtige beim Entzug und Drogenhändler bei der Arbeitssuche unterstützen. Schließlich üben »Gemeinschaftskoordinatoren« (»community coordinators«) im Hintergrund mit der gewaltgeplagten Bevölkerung einen friedlicheren Umgang mit Waffen ein.

Zu den Leitprinzipien von »Cure Violence« gehört, dass »interrupters« und »change agents« direkt aus den gewaltbetroffenen Gemeinschaften rekrutiert werden sollen, ja selbst »Gewaltinfizierte« gewesen sein können. Derweil bleiben wissenschaftliche Experten wie Slutkin, anders als bei akuten Gesundheitskrisen, im Hintergrund. Begründet wird diese Haltung mit der Nähe und dem wechselseitigen Vertrauen zwischen der Bevölkerung und den »Gewaltheilern«.

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