Heft 881, Oktober 2022

Rasender Stillstand

Flucht aus Shenzhen von Gregory Jones-Katz

Flucht aus Shenzhen

Es war in der letzten Märzwoche – noch vor dem Beginn der Taifun-Saison –, als ein Wolkenbruch meine kleine Familie und mich völlig durchnässte, die Schirme halfen da nichts. Wir versuchten gar nicht erst, dem Regen zu entfliehen, es ging uns um eine viel wichtigere Flucht. Wir hatten alles für unseren transeurasischen Flug nach Deutschland gepackt. Ein befristeter Forschungsaufenthalt in Essen hatte das möglich gemacht, und so planten wir den Aufbruch von unserer Wohnung auf dem Universitäts-Campus von Shenzhen, einer Megalopolis an der Grenze zu Hongkong, das Zentrum des chinesischen Technologiesektors, vor allem der Elektronikindustrien, aber auch einer der größten Häfen der Welt. Fast sechs Jahre lang war die Stadt unsere Heimat gewesen.

Auf der anderen Seite des Haupttors des Campus und jenseits mehrerer Reihen hastig errichteter Zäune, die uns während des Lockdowns von jenen getrennt hatten, die sich wieder in die immense Maschine namens Shenzhen stürzen durften, wartete unser Didi (das chinesische Uber) auf uns. Sein Fahrer lehnte am Auto, entspannt, und rauchte eine Zigarette unter seinem Schirm. Auf der Straße, auf die das Haupttor hinausgeht, fuhren Pkws und Lkws flott dahin. Wir jedoch wurden am Tor gestoppt, von einem der Sicherheitsposten, wie sie im zeitgenössischen China allgegenwärtig sind, Teil eines Systems privater Sicherheitskräfte, die in der Regel der staatlichen Polizei angegliedert sind. Er weigerte sich, uns passieren zu lassen. Dabei hatten wir, wie mein Sohn auf Mandarin auch flehentlich insistierte, eine Ausreiseerlaubnis der lokalen Behörden erhalten (weniger als 48 Stunden vor unserem Abflug, knapp genug); die formale Genehmigung jedoch war an die zuständigen Sicherheitskräfte durch eine offenbar verlorengegangene Textnachricht weitergeleitet worden. Unsere Stimmung kippte abrupt, mein Blutdruck stieg. Zu diesem Zeitpunkt – und nicht nur zu diesem – schien alles unvorhersehbar, undurchsichtig, unpersönlich. Statt des erhofften Exodus ein weiter Aufenthalt in einer Art Limbo.

Natürlich waren wir nicht buchstäblich in der Hölle gelandet. Aber eine Form der Ursünde belastete uns sehr wohl: Wir waren Ausländer und, schlimmer noch, mit einer Universität affiliiert. Ausländer und höhere Bildungseinrichtungen waren zu Verdächtigen geworden, wurden zu Verursachern oder potentiellen Überträgern »importierter« Corona-Fälle erklärt. Dass im ganzen Land die neuen Virus-Varianten auftauchten, ohne dass überhaupt Ausländer in der Nähe gewesen wären, verhinderte weder das zunehmende ausländerfeindliche Ressentiment noch minderte es den wachsenden Druck, den die chinesische »Zero-Covid«-Politik auf uns alle ausübte. Nach zwei Jahren drakonischer Einschränkungen, darunter die Verhängung von wochenlanger Quarantäne für Infizierte, die Einstellung des Flugverkehrs aus und nach China, die Einführung neuer QR-Codes, die den Zugang zum öffentlichen Raum je nach Corona-Risikostatus regulierten, wurde der Zugriff des Überwachungsstaatskapitalismus nur immer rigider.

Auch Shenzhen hatte seine Vorbeugungs- und Kontrollmaßnahmen immer weiter verschärft. Im März kam unsere Megacity schließlich völlig zum Stillstand. Nicht systemrelevante Arbeiter mussten in ihren Wohnungen bleiben, alle Bürgerinnen und Bürger wurden teils täglichen PCR-Tests unterzogen, der öffentliche Nahverkehr wurde eingestellt, Flüge wurden gestrichen und Lkw-Fahrer, die aus Hongkong kamen, wo die Inzidenzen sehr hoch lagen, strengen Screenings unterzogen. Gerüchte zirkulierten im Netz und auch offline – Desinformation kennt so wenig wie das Virus nationale Grenzen: Kranke Bürger aus Hongkong, die den fortlaufenden Infektionswellen und der harschen Covid-Strategie in der Stadt zu entkommen versuchten, sprängen, so hieß es, in den Fluss Sham Chun, um Richtung »Freiheit«, nämlich nach Shenzhen, zu schwimmen. Das war eine Pervertierung der wahren Geschichte von den »Freiheitsschwimmern« aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die zu Hunderttausenden aus Festland-China flohen und bei dem Versuch, die britische Kronkolonie zu erreichen, ihr Leben riskierten. Unser Campus-Purgatorium Ende März fühlte sich wie unser eigener kleiner Hades an, in welche Richtung wir über den Styx schwammen, war allerdings eine Frage der Perspektive.

Einige Wochen vor unserem für Ende März geplanten Flug nach Frankfurt hatten die Autoritäten in Shenzhen für die Mehrzahl der Stadtbezirke viele ihrer Abschreckungs- und Kontrollmaßnahmen aufgehoben. Die Universität allerdings blieb frustrierenderweise im Lockdown. Viele unserer Studierenden, die den Campus nicht einmal während des am 1. Februar beginnenden Neujahrsfests verlassen hatten, aus Angst, nicht zurückkehren zu können, waren wie wir auf dem Campus eingesperrt. Einen Grund dafür erfuhren wir nicht, abgesehen vom üblichen »Es gilt, die Epidemie-Prävention und -Kontrolle zu stärken«. Vielleicht war den Stadtoberen angesichts des Ausbruchs in Shanghai, der mit seinen Massentests und strikten Lockdowns rasch eskaliert war und das Handelszentrum des Landes gelähmt hatte, der Schreck in die Glieder gefahren. Ein weitverbreitetes Gerücht, dem viele von uns glaubten, behauptete, die Oberen in Shenzhen und der Provinz Guangdong setzten ihrer Zukunft zuliebe alles daran, Präsident Xi zu Gefallen zu sein, dessen »Wiederwahl« für einen historischen Zeitraum von fünf Jahren beim Nationalen Volkskongress im Oktober ansteht.

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