Heft 856, September 2020

Rechtskolumne

Verhältnismäßig grenzenlos von Florian Meinel

Verhältnismäßig grenzenlos

Die juristische Sprache unterscheidet wie selbstverständlich zwischen der abstrakten Geltung eines individuellen Rechts und seiner Reichweite im konkreten Einzelfall. Etwa in Fällen wie diesen: Eigentümer haben das Recht, mit ihrer Sache nach Belieben zu verfahren (§ 903 BGB). Handelt es sich dabei um gefährliche Waffen, ist es mit dem Belieben mit Recht nicht weit her. Oder: Allgemein herrscht Vertragsfreiheit, aber nicht für schikanöse Arbeitsverträge. Besonders große Bedeutung hat diese Unterscheidungstechnik bei Grundrechten: Ihre abstrakte Geltung reicht textlich sehr weit: Artikel 12 des Grundgesetzes »schützt« die Berufsausübung in jeder Form. Trotzdem sind die allermeisten Berufszugangsregelungen, Sicherheits- und Arbeitsschutznormen natürlich verfassungsgemäß. Jede staatliche Unterscheidung zwischen Personen »berührt« die Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichwohl dürfen Arm und Reich im Steuerrecht unterschieden werden.

Kurz: So umfassend das normative Versprechen der Grundrechte ist, so sehr bestimmt sich das konkrete Maß der Freiheit durch Kontext, Rechtsordnung und demokratische Entscheidungen. Das ist seit langem verfassungsrechtliches Allgemeingut. Seit Beginn der Pandemie verstehen auch die Menschen im Lande (die meisten jedenfalls) die gedankliche Mechanik des Grundrechtsschutzes: Sind öffentliche Interessen nur gewichtig, die Lage nur dramatisch genug, sind Eingriffe in die Grundrechte gerechtfertigt. Dann reduzieren sich etwa die Grundrechte auf Freizügigkeit oder Religionsausübung auf die Einsicht in die Vernünftigkeit ihrer Suspendierung. Man ist zwar noch Träger eines Rechts, überragend wichtige Zwecke sollen aber rechtfertigen, dass man zuhause bleiben muss und keinen Gottesdienst feiern darf. Lektionen des Ausnahmezustands: Freiheitsrechte können zu reinen Begründungsansprüchen gegen staatliche Institutionen werden. Die Möglichkeit der Aufhebung von Rechten ist gleichsam in sie eingebaut.

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