Rechtskolumne
Verhältnismäßig grenzenlos von Florian MeinelDie juristische Sprache unterscheidet wie selbstverständlich zwischen der abstrakten Geltung eines individuellen Rechts und seiner Reichweite im konkreten Einzelfall. Etwa in Fällen wie diesen: Eigentümer haben das Recht, mit ihrer Sache nach Belieben zu verfahren (§ 903 BGB). Handelt es sich dabei um gefährliche Waffen, ist es mit dem Belieben mit Recht nicht weit her. Oder: Allgemein herrscht Vertragsfreiheit, aber nicht für schikanöse Arbeitsverträge. Besonders große Bedeutung hat diese Unterscheidungstechnik bei Grundrechten: Ihre abstrakte Geltung reicht textlich sehr weit: Artikel 12 des Grundgesetzes »schützt« die Berufsausübung in jeder Form. Trotzdem sind die allermeisten Berufszugangsregelungen, Sicherheits- und Arbeitsschutznormen natürlich verfassungsgemäß. Jede staatliche Unterscheidung zwischen Personen »berührt« die Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichwohl dürfen Arm und Reich im Steuerrecht unterschieden werden.
Kurz: So umfassend das normative Versprechen der Grundrechte ist, so sehr bestimmt sich das konkrete Maß der Freiheit durch Kontext, Rechtsordnung und demokratische Entscheidungen. Das ist seit langem verfassungsrechtliches Allgemeingut. Seit Beginn der Pandemie verstehen auch die Menschen im Lande (die meisten jedenfalls) die gedankliche Mechanik des Grundrechtsschutzes: Sind öffentliche Interessen nur gewichtig, die Lage nur dramatisch genug, sind Eingriffe in die Grundrechte gerechtfertigt. Dann reduzieren sich etwa die Grundrechte auf Freizügigkeit oder Religionsausübung auf die Einsicht in die Vernünftigkeit ihrer Suspendierung. Man ist zwar noch Träger eines Rechts, überragend wichtige Zwecke sollen aber rechtfertigen, dass man zuhause bleiben muss und keinen Gottesdienst feiern darf. Lektionen des Ausnahmezustands: Freiheitsrechte können zu reinen Begründungsansprüchen gegen staatliche Institutionen werden. Die Möglichkeit der Aufhebung von Rechten ist gleichsam in sie eingebaut.
Das Verfahren dieser Rechtfertigung bezeichnet man meistens als Abwägung oder als Prüfung der Verhältnismäßigkeit: Grundrechtseingriffe müssen nicht nur ihrem Zweck dienlich sein. Der Rechtsverlust darf auch nicht außer Verhältnis zu dem mit ihm gewonnenen gemeinen Nutzen stehen. So einleuchtend das Prinzip ist, so schwierig ist es im Einzelfall, Inkommensurables gegeneinander zu gewichten: Es ist verhältnismäßig, eine gewalttätige Versammlung aufzulösen. Will man bei der Abwägung aber auch berücksichtigen, ob die Polizei durch ein sinnvolles Präventionskonzept die Eskalation hätte vermeiden können, wird es schnell kompliziert.
Die Verhinderung der Ausbreitung einer Seuche mag rasch den Rechtsverlust von Kontaktverboten überwiegen. Will man in die Abwägung außerdem das Recht auf Schulbesuch und Persönlichkeitsentfaltung, die rezessionsbedingte Steigerung der Suizidrate und der häuslichen Gewalt, die Berufsfreiheit von Konzert- und Reiseveranstaltern, die entgangene Urlaubsfreude, die Gefahr politischer Radikalisierung und die Möglichkeit der Verlagerung der Kontakte in digitale Räume einstellen, hilft alles nichts: Dann muss die Politik entscheiden. Dafür ist sie schließlich da. Schon das anzusetzende »Gewicht« eines Grundrechtseingriffs lässt sich nämlich nur selten leicht bestimmen: Kommt es bei der Impfpflicht auf den Durchschnittspatienten oder den Impfgegner an?
Allgemein gilt aber: Je weiter der Grundrechtsschutz, desto größer der Bedarf nach solchen Abwägungsvorgängen. Nur wer sie für eine verlässliche Prozedur hält, wird darum auch die möglichst weitgehende Ausdehnung der abstrakten Grundrechtsgeltung vorbehaltlos für eine gute Idee halten. Seit langem gibt es daher eine substantielle Kritik der Methode der Abwägung.1
Anders das Bundesverfassungsgericht. In zwei bemerkenswerten jüngeren Urteilen hat es den Raum zwischen abstrakter Geltung und situativer Gewährleistung, den Bereich der Abwägung also, noch ausgeweitet. Das eine, in der Öffentlichkeit besonders kontrovers diskutierte Urteil stammt vom Zweiten Senat und betrifft die Anleihekaufprogramme der Europäischen Zentralbank, das andere kommt vom Ersten Senat und beschäftigt sich mit der Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendiensts.2
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