Heft 869, Oktober 2021

Rechtskolumne

Zur Zukunft der parlamentarischen Minderheitenrechte von Florian Meinel

Zur Zukunft der parlamentarischen Minderheitenrechte

Zu den Eigenarten der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik gehört, dass der Bundestag es seit 1953, seit der politischen Verdrängung und dem gerichtlichen Verbot der KPD, über viele Jahrzehnte hinweg nur mit loyalen Oppositionen zu tun hatte. Auch beim Einzug der Grünen in den Bundestag war, gut fünf Jahre nach dem Deutschen Herbst, die Deradikalisierung von Milieu und Partei weit fortgeschritten. Die PDS spielte als ideologisch wenig aggressive ostdeutsche Regionalpartei stets eine Sonderrolle. Der bundesweite Erfolg einer Anti-System-Partei bei der Wahl 2017 war deswegen eine politische ebenso wie eine parlamentsgeschichtliche Zäsur. Sie ist mit dem Beginn der 20. Wahlperiode und dem Wiedereinzug der AfD auf Dauer gestellt. Das politische Gesicht und die parlamentarische Taktik der Opposition haben sich verändert; jedenfalls mittelfristig.

Die AfD hatte sich auf die Fahnen geschrieben, die parlamentarische Auseinandersetzung jenseits des vermeintlich lähmenden Allparteienkonsensens erneuern zu wollen. Wie hat sie agiert? Die parlamentarische Statistik der 19. Wahlperiode dokumentiert eine besondere Intensität der politischen Betriebsamkeit: Von der AfD stammen die meisten Gesetzesinitiativen aller Oppositionsparteien, obgleich diese natürlich aussichtslos und nur für die eigene Basis formuliert sind. Die AfD hat mit Abstand die meisten Großen Anfragen gestellt. Das ist konsequent, weil dieses Instrument der Fraktion ein Recht auf eine Plenardebatte über den Gegenstand der Anfrage verschafft (§ 101 Satz 3 der Geschäftsordnung des Bundestages). Es ist das probate Mittel, um Themen auf die Agenda des Plenums zu setzen. Dagegen verantwortet die AfD hinter der FDP nur die zweitmeisten Kleinen Anfragen. Sie sind das Standardinstrument einer an Sachfragen orientierten laufenden parlamentarischen Kontrolle der Bundesregierung.

Die legislative Arbeit der Regierungsmehrheit hat die AfD jedoch nicht beeinträchtigen können. Das Geschäftsordnungsrecht des Bundestages kennt kaum Möglichkeiten einer Minderheit, Gesetzgebungsverfahren ernsthaft zu obstruieren, und die politische Autorität Wolfgang Schäubles als Parlamentspräsident hat vermutlich einiges abgefangen, was anderenfalls versucht worden wäre.

Was sich statistisch hingegen nur begrenzt erfassen lässt, ist die Veränderung der parlamentarischen Rede. In der vergangenen Wahlperiode wurden mehr Ordnungsrufe erteilt als in mehreren früheren zusammen; besonders häufig, aber nicht nur an Abgeordnete der AfD. Die Erneuerung der parlamentarischen Rede ist einstweilen über Pöbeleien und Gegenhiebe nicht hinausgekommen – und über eine Semantik, die mit Reizvokabeln die Grenzen des Sagbaren verschiebt.

Zu den Auffälligkeiten des politischen Agierens der AfD gehört aber nicht nur die provokative parlamentarische Hyperaktivität, sondern auch eine ausgeprägte Vorliebe für Rechtsstreitigkeiten. Die Fraktionen der Partei im Bundestag und in den Landtagen haben das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte während der vergangenen Jahre mit zahlreichen Klagen überzogen: gegen die Flüchtlingspolitik als Ganze (erfolglos), gegen den neuen EU-Haushalt, gegen Äußerungen der Bundeskanzlerin zur Thüringer Regierungsbildung (beides noch anhängig) oder gegen die Maskenpflicht im Bundestag (zurückgezogen), vor allem aber immer wieder gegen ihre »Diskriminierung« durch die übrigen Parteien.

Vor dem Bundesverfassungsgericht klagt die AfD derzeit gegen die nach zahlreichen Grenzüberschreitungen fraktionsübergreifend ins Werk gesetzte Abwahl des Abgeordneten Stephan Brandner vom Vorsitz des Rechtsausschusses und gegen die Weigerung der Bundestagsmehrheit, einen von der AfD vorgeschlagenen Bundestagsvizepräsidenten zu wählen. Nicht anders ist es in den Ländern. Vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof hat die AfD-Fraktion des Landtags besonders viele Verfahren betrieben, unter anderem wiederum gegen die Maskenpflicht im Parlament, gegen die Mitgliedschaft des Landtags in einem »Bündnis für Toleranz« oder gegen die Nichtberücksichtigung ihrer Vorschläge bei der Wahl zum Parlamentarischen Kontrollgremium des Landtags. Aus anderen Bundesländern ließen sich viele ähnliche Fälle nennen.

Minderheitenrechte?

Die politische Taktik der Systemopposition hat also zwei Seiten: Innerhalb der Institutionen besteht sie vor allem in rhetorischer Skandalprovokation ohne Chance auf wirksame institutionelle Obstruktion, außerhalb der Institutionen versucht sie Obstruktion in Form von Verfassungsstreitigkeiten. Ob sie damit Erfolg haben wird, ist noch nicht ausgemacht. Verfassungsgerichte reagieren auf neue politische Konstellationen grundsätzlich mit einer gewissen Verzögerung, was vor allem an der üblichen Dauer großer politischer Verfahren liegt. Zwar sind zur Brandner-Affäre und zur Nichtwahl der Bundestagsvizepräsidenten schon – ablehnende – Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz ergangen. Auch gibt es bereits einzelne einschlägige Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte. Der größte Teil der während der 19. Wahlperiode angefallenen Streitigkeiten wird aber erst während der 20. entschieden werden.

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