Heft 863, April 2021

Rechtskolumne

Parlament und Regierung im notstandsverwalteten Deutschland von Florian Meinel

Parlament und Regierung im notstandsverwalteten Deutschland

Die Epidemie der Spanischen Grippe endete mit dem Abklingen der dritten Infektionswelle im Lauf des Jahres 1920. Max Weber, der die Deutschen während des Kriegs auf die parlamentarisch verantwortliche Regierung eingeschworen hatte,1 wurde am 14. Juni in München eines ihrer letzten Opfer. Eben zu dieser Zeit beendete Carl Schmitt, der in Webers Dozentenkolloquium geschulte, damals noch recht unbekannte Dozent der Rechtslehre, eine Studie, in der er die Grundbegriffe seiner späteren Verfassungstheorie entwickelte: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf ging Anfang Oktober 1920 in den Satz und erschien vor genau hundert Jahren, im Frühjahr 1921, in Webers Hausverlag Duncker & Humblot.2 Schmitt hatte während des Kriegs in München als Praktiker der bürokratischen Diktatur gearbeitet, im Generalkommando des I. Bayerischen Armee-Korps als Leiter des Referats P6 mit der Zuständigkeit für die Überwachung der Friedensbewegung und die Beschlagnahme von Druckschriften. Der Ausnahmezustand prägte das Bild der Politik: Oktoberrevolution, Räterepublik, Arbeiteraufstände, Friedrich Eberts Notstandsmaßnahmen mithilfe der Reichswehr. Das Regieren mit Sondervollmachten wurde zu einer demokratischen Normalität.

Schmitt widersprach Weber nirgends direkt, setzte ihm aber ein anderes Paradigma politischen Handelns entgegen. Max Webers parlamentarisch kontrollierte Regierung führt der bürokratischen Maschine auch in Krisenzeiten Legitimität zu, weil sie sich der öffentlichen Konkurrenz in Wahlen stellt, der parlamentarischen Konkurrenz um Regierungsämter und der öffentlichen parlamentarischen Kontrolle. Carl Schmitt dagegen löste den Ausnahmezustand von der parlamentarischen Verantwortung. Mittel der verfassungsmäßigen Bewältigung des Ausnahmezustands ist die Ermächtigung, die Freistellung des Trägers der Diktatur von rechtlichen Bindungen bei gleichzeitiger Bindung an die politische Grundentscheidung, die Verfassung (eine Vorstellung die bei Weber ganz fehlt).

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