Heft 892, September 2023

Sie haben jetzt auch Cold Brew in Berlin

von Gabriel Yoran
Download (PDF)

In den USA kennt man den Begriff des third place, einem Ort, der nicht das Zuhause und nicht die Arbeit ist. Er stammt aus einer Zeit, in der Dinge noch an Orten hingen und es noch nicht egal war, wo man war, um etwas zu tun. Der Dritte Ort ist ein Ort, von dem man nicht verjagt wird und an dem es keinen Konsumzwang gibt. Er ist ein seltenes Gut in einer Welt, die Flächen versiegelt und verkauft, in denen Bänke mit Spikes versehen werden, damit Skater auf ihnen nicht skaten und Obdachlose auf ihnen nicht schlafen; in denen Einkaufsstraßen aufeinandergestapelt werden zu Malls, die Eingangstüren haben und Sicherheitsbedienstete, die nach Kaufunfähigkeit Aussehende abweisen. In einer Welt, in der an Bahnhöfen klassische Musik gespielt wird, weil Junkies die nicht mögen, und wo die öffentlichen Toiletten 50 Cent oder eine App verlangen und auf denen blaue UV-Beleuchtung verhindert, dass die aus den Bahnhöfen vergrämten Suchtkranken ihre Adern finden.

Die Notwendigkeit eines Begriffs wie third place mag hierzulande befremdlich wirken, aber in den USA hängen überall Schilder, die das Herumlungern verbieten: No loitering. In den McDonald’s-Filialen einer schlechteren Bostoner Gegend habe ich sogar mal einen Aushang mit Fristsetzung gesehen: Rumsitzen von über fünfzehn Minuten nach Verzehrende ist Herumlungern.

Als ich 2015 nach New England kam, war ich weder drogenkrank noch kaufunfähig oder gar verzehrunwillig. Ich war nur einsam.

Meine Arbeit war in Berlin, die dortigen Kollegen waren ab meinem Mittag in ihrem Feierabend. Mein Partner hatte einen Forschungsjob in einem Labor bekommen. Nur im Labor kann man im Labor arbeiten, und einen Partner wollte ich nur haben, wo der Partner ist. Weil die Dinge eben doch an Orten hängen und an den Dingen auch die Menschen, bin ich mitgekommen. Freunde hatte ich in Providence, Rhode Island, noch keine. Ich schrieb damals an meiner Dissertation. Das ist eine Tätigkeit, die nur noch einsamer macht. Ich musste also unter Leute, ich wollte herumlungern, aber mit einem Buch in der Hand oder hinter einem Laptop. Also ging ich ins Café.

Ich ging in unzählige, um eines zu finden, das als neue Heimat in der neuen Heimat taugt. Mal blies mich die Klimaanlage vom Stuhl, oder es gab nur abgezähltes Internet gegen Coupons. Mal war der Kaffee ungenießbar, mal waren es die Donuts.

Dabei ist es ganz einfach: Das Wichtigste am Café sind die Leute. Die Gäste auch, aber die meine ich nicht. (Extremfläzende Studierende nerven irgendwann, dauermeetende Businesspeople auch, insofern sind die Gäste schon wichtig.) Ich meine die Leute, die man früher despektierlich »das Personal« genannt hat. In diesem konkreten Fall John Paul »JP« Murton und Diana Murton und die Leute, die sie angeheuert haben.

An einem heißen Sommertag besuchte ich ihr nur sechzig Quadratmeter großes Café zum ersten Mal. Es lag zwischen einem Tätowier- und einem Nagelstudio, gegenüber einer bemalten Grundschule an der letzten Straße vor dem Park an der Bucht, in der das Wasser in zwei Richtungen gleichzeitig fließt. Ein Ästuar, sagten die Bewohner der Bucht. Es ist gefährlich, wenn man nicht weiß, dass mitten im Fluss die Strömung die Richtung wechselt.

Das Café trug den unprätentiösen Namen »The Shop«, was nicht nur Laden, sondern auch Werkstatt heißen kann. Drinnen zapfte JP etwas, das wie Guinness aussah. Er erklärte mir, das ist Nitro Cold Brew, Kaffee, der vierundzwanzig Stunden lang kalt gezogen hat und dadurch sehr süß wird, ohne dass man Zucker oder Sirup braucht. Das klang gut, weil ich in den ersten Monaten in Amerika bereits nicht unerheblich zugenommen hatte, denn die Verführungen waren überall größer als in der Heimat und meine Neugier war es auch. Und da Providence das Zuhause der größten Kochschule der Welt ist, eröffnen deren Abgängerinnen und Abgänger hier ständig neue Lokale, um sich auszuprobieren, denn es ist billiger hier als im eine Stunde entfernten Boston. Hier darf man experimentieren, in Boston muss es sitzen.

Ein süßer Kaffee ohne Zucker, immer her damit! JP zapfte mir ein Glas. Der Kaffee war samtig und hatte eine Art Crema, das kommt vom Stickstoff, deshalb Nitro. Ich war sofort sold, das Zeug war so gut. Ich wusste, das ist das nächste große Ding, und wenn ich das nächste Mal in Berlin bin, werde ich allen damit auf den Keks gehen, dass kalter Kaffee jetzt kein kalter Kaffee mehr ist. JP sah meine Reaktion und war unzufrieden. Die Leute liebten das Zeug, und er würde es jetzt immer auf der Karte haben müssen. Ich fragte, wo das Problem ist.

»Das ist doch ein Sommergetränk! Wenn man es immer anbietet, ist es nichts Besonderes mehr!«

»Freu dich doch, dass du etwas im Sortiment hast, was die Leute lieben!«

»Naaaah!«

JP machte eine wegwerfende Handbewegung. Hier war ein Überzeugungstäter am Werk. In dem Land, das uns die Abkürzung 24/7 geschenkt hat, weil man alles immer haben können soll, ausgerechnet in diesem Land erfuhr ich, dass genau deshalb nichts mehr besonders ist. Die Dinge gehören in ihre Zeit, sonst verliert alles seine Bedeutung.

Auf dem kleinen Platz neben dem Café stand eine hilflos gestaltete Büste von William Wickenden, einem Baptistenpfarrer, der im 17. Jahrhundert Neu-Engländer getauft hat und dafür von der niederländischen Kolonialregierung ins Gefängnis geworfen wurde. Ein Rebell, wie so viele der Figuren, die sie hier in Rhode Island verehren. In diesem Staat, der immerhin doppelt so groß ist wie das Saarland und in dessen Verfassung erstmals in der Geschichte irgendeines Staates die Trennung von Staat und Kirche festgeschrieben wurde. Sie verstehen sich hier als Zufluchtsort der Unangepassten, seit diese Gegend die neue Heimat der doppelt verfolgten Baptisten wurde, die erst in ihrer englischen Heimat und dann im neugegründeten Boston ihre Religion nicht ausüben durften. In Rhode Island wurden sie in Ruhe gelassen. Dieser Frieden kostete die Narragansett, die seit Jahrtausenden an der Bucht mit dem gefährlichen Wasser lebten, erst ihr Land und dann viele von ihnen das Leben. Diese Zeit ist lange vorbei, das Schicksal der Narragansett ist vielfach überschrieben von dem Geistesfrieden, den europäische Männer hier suchten.

Gleich am nächsten Tag wollte ich den süßen Kaffee wieder trinken, und in der Woche und in den Monaten darauf auch. Ich ging regelmäßig in den Shop, setzte mich an einen kleinen runden Zweiertisch oder an die lange Tafel oder auf einen Barhocker im Fenster oder auf einen Blechstuhl vor der Tür oder in den winzigen Alkoven. Es gab eine Sitzgelegenheit für jede Vorliebe. Das ist wichtig in einem Café, und in The Shop wussten sie das. Hier würde ich mich wieder und wieder hinsetzen und den süßen kalten Kaffee trinken und an der Dissertation schreiben.

Die Studentin an dem langen Holztisch hatte neben ihrem Laptop einen Stapel Bücher über Quantenphysik liegen. Es sah aus wie eine Inszenierung, aber da auch die Brown University um die Ecke aussah wie der Traum von einer Uni, nahm ich an, es war echt. Auf jeden Fall echt waren die durchschnittlichen Studiengebühren in Höhe von jährlich sechzigtausend Dollar. Immer wenn ich einen Brown-Studierenden sah, dachte ich: Hoffentlich weißt du, wie unglaublich gut du es hast, wenn du hier studieren darfst (und vielleicht sogar ein Stipendium hast).

Nach ein paar Monaten hatte JP einen jungen Barista angeheuert, mit dem ich ins Gespräch kam, als er bei der Kaffeebestellung nach meinem Namen fragte.

»Berlin, Germany?« Na, da hätten sie doch auch eine richtig gute, »lively« Kaffeeszene, sagt er. »The Barn« oder so was?

Tatsächlich, ja. Dieses Café war einen Sommer lang deutschlandweit dafür bekannt, einen riesigen Betonpoller in die Eingangstür gestellt zu haben, um ein Kinderwagenverbot durchzusetzen. An den unverputzten Betonwänden klebten kleine Aufkleber: »no laptops«. Mitten in Berlin. Das Personal verstand damals noch kein Deutsch und das Publikum die Kaffeekarte nicht. Die Preise suggerierten, dass hier Kaffee verkauft wird wie anderswo Wein. Jede Sorte hatte eine Art Visitenkarte, die man zu seiner Tasse gereicht bekam, so dass man Herkunft, Charakter und Verarbeitung der Bohne studieren konnte. Sich ins Berliner »The Barn« zu setzen, sagte auch etwas über Herkunft, Charakter und Verarbeitung von einem selbst aus. Auf wackeligen Schemeln hockte man vor einer dünnen Acht-Euro-Tasse, die – jede Sorte in der für sie angemessenen Maschine – mit heiligem Ernst zubereitet wurde. Sie schmeckte eher wie Tee, interessant auch, ja, aber ein Dritter Ort war dieser Laden nicht. Er wollte eigentlich gar kein Ort sein, und eine Community sowieso nicht. Du sollst hier nicht sein, auch ohne Kinderwagen und Laptop nicht, du sollst die Biografie deines Kaffees lesen, dich deiner Kennerschaft erfreuen oder an deiner Feinsinnigkeit zweifeln, als Statist in einer gleichermaßen Ehrfurcht gebietenden wie albernen Performance.

»Hmhm, The Barn, yes, they’re quite something«, murmelte ich zu meinem amerikanischen Barista und nahm meinen Kaffee in Empfang. Ich fragte, was es mit dem kleinen gelben Kuchen in der Auslage auf sich hat.

Oh, das ist eine Cheddar-Apfel-Polenta, dazu gibt es gesalzene Butter und ein winziges Gläschen Honig. »Can I interest you in one?«

Ich ging mittlerweile jede Woche mehrmals in den Shop. Einen Sommer später betrat ich das Café und hatte ein viel zu großes Eis dabei. JP sah mich mit der tropfenden Waffel kämpfen und beugte sich über den Tresen.

»Soll ich dir einen Affogato draus machen?«

Er platzierte meine kaputte Waffel mit dem verbliebenen Eis in einer Tasse und machte mir einen Espresso dazu, den ich dann selbst darübergießen durfte.

Es war diese Art von gewitzter Aufmerksamkeit, die einen Laden wie den Shop von den Tausenden anderen Coffeeshops unterschied. In den Shop zu gehen fühlte sich nicht an wie der Einkauf einer Dienstleistung, es fühlte sich an, wie nach Hause zu kommen.

War dieser kleine Bundesstaat mein neues Zuhause geworden? War Amerika mein neues Zuhause geworden? Oder waren es nur diese Handvoll Leute auf ihren sechzig Quadratmetern Gastfreundschaft, weil es eben nicht egal ist, wo etwas stattfindet, weil die Dinge eben doch an Orten hängen, ein Staat im Staat, auf sechzig Quadratmetern.

Eine halbe Stunde Fußweg vom Shop entfernt, auf der anderen Flussseite, steht das Rhode Island State House, der Regierungssitz. Auf der Südseite des klassizistischen Baus prangt in festlichen Lettern ein Ausschnitt aus der Verfassung. Er beginnt mit den Worten »To hold forth a lively experiment«. Dieses Fleckchen Land ist ein Versuch des Zusammenlebens nach neuen Regeln. Sie fußen in der Trennung von staatlichen und religiösen Dingen, was heute bedeutet: Du kannst hier glücklich werden, auch wenn du anders bist. So vermarktet sich der Staat heute, als Community of misfits. Du gehörst dazu, weil du anders bist. Sollte das wirklich wahr sein?

Die orthodoxen Juden eilten zur Synagoge, die sie hier Temple nennen, vorbei an der protestantischen United Church of Christ, die ein Schild in ihren Vorgarten stellte, auf dem sie »our Muslim neighbors« einen gesegneten Ramadan wünschte, und ich besuchte meinen ersten baptistischen Gottesdienst. Beim gemeinsamen Essen danach wurde daran erinnert, noch Dosenfisch zu spenden. Im reichsten Land der Welt sind viel zu viele Menschen food insecure, also mangelernährt, vor allem Obdachlose. Es fehle ihnen an Proteinen, sagte die Pastorin, also brachten die Gemeindemitglieder Dosenfisch in die Predigt mit.

B., meine beste Freundin in Amerika, hatte ich beim German-American Stammtisch im Nachbarort Pawtucket kennengelernt, wo sie mir begeistert von zusammengesetzten Modalpartikeln im Deutschen erzählte (das sind Begriffe wie »doch schon«, »wohl erst«). Wer sich für so was begeistert, kann kein schlechter Mensch sein. B. war vom Christentum zum Judentum konvertiert und hatte sich vorgenommen, einen jüdischen Farmer zu heiraten. Das erzählte sie mir zehn Minuten nachdem wir uns erstmals Hi! gesagt hatten.

»Dann solltest du vielleicht mal zur Jewish Farmers Association gehen«, witzelte ich.

»Was glaubst du, wo ich gerade herkomme?«

Natürlich gab es so einen Verein wirklich. ’Cause this is a community.

Ich ging Dutzende Male in den Shop, wahrscheinlich über hundert Mal. Ich frühstückte den besten Porridge, den ich kenne (mit Zimt, Ahornsirup, Zitronensaft, einem Stück kalter Butter und grobem Salz drauf), und im Herbst bekam ich meinen ersten Butterscotch Kettle Corn in einem Gläschen zum Kakao: knuspriges Karamellpopcorn, das eine granny an der Grenze zu Massachusetts in einem riesigen Kessel irgendwo auf der grünen Wiese zubereitet hat.

»Besuch sie doch mal, she’s great

Die Grenze zum Nachbarstaat war nicht weit entfernt, in eine Richtung sogar fußläufig erreichbar. Ich besuchte die Oma und kaufte ihr einen Sack ganz frisches Popcorn ab. Sie machte am Wochenende jede Stunde welches, und ich krümelte das Auto schon auf der Rückfahrt voll.

JP hat das geschaffen, was man eine community nennt. Wenn ich hinkam, erkannte ich die Leute, seine Mitarbeiterinnen, aber auch viele der Gäste. Manchen nickte man nur zu, manche erzählten kurz was, manchmal fand an der langen Tafel ein Bewerbungsgespräch statt. Irgendwann lernte ich die Lieferanten kennen, nicht nur für den Shop, sondern für die halbe Stadt. Die Eier kamen von der Farm im Wald im Westen, die Äpfel aus dem orchard im Süden. Fast alle waren aus der Region. Der Moderator der Lokalnachrichten auf WPRI 12 kam vorbei, er hatte die gleiche Krawatte an wie vorhin im Fernsehen, als er vor dem Schneesturm gewarnt hatte.

Nachdem ein Mitarbeiter der örtlichen Schanklizenzkommission sich von einem Wirt mit einem neuen BMW hatte schmieren lassen, musste er direkt vom Gericht ins Gefängnis. Der Verurteilte fuhr sich selbst in den Knast, vorbei an unserer Wohnung, überwacht vom Helikopter der Lokalnachrichten. Ich weiß, wo in Providence das Gericht ist, und ich weiß, wo der Knast ist (die Zulassungsstelle ist direkt daneben). Beides weiß ich in Berlin nicht. Und ich wüsste zehnmal nicht, wer die Schanklizenzen vergibt. Wenn das öffentliche Leben direkt vor deiner Haustür passiert und nicht vor allem auf Websites und Social Media, dann macht das etwas mit dir. Du bist Teil von etwas, du bist kein Zuschauer, du bist kein Statist in einem Film. Du machst mit bei diesem lebhaften Experiment des Miteinander.

B. schrieb mir als Erste, als im Juni 2016 ein Mann in einem Schwulenclub in Orlando fünfzig Menschen erschoss. Für sie war das selbstverständlich, denn ich war mit meinem Freund nach Amerika gekommen und man hatte unsere community angegriffen. Es war an der Zeit, Beistand zu leisten. Sie war nicht die Einzige, aber sie war die Erste, die sich meldete. Es schrieben amerikanische Freunde, aus Deutschland kam nur donnernde Stille. Dabei hatte dieser Massenmord, der größte nach 9/11 auf amerikanischem Boden, auch für die schwule Community in Deutschland etwas geändert. Viele »unpolitische« Schwule, denen die Pride-Flagge vielleicht ein bisschen peinlich war, zeigten seitdem offener, dass sie zu einer Community gehören, die von manchen so gehasst wird, dass sie sie vernichten wollen. Es gehören mehr Menschen zu dieser Community, als man denkt, und für die ist Orlando nicht weit weg, egal wie weit weg sie wohnen.

Am State House hatten sie die Pride-Flagge gehisst, aber nur halb. Auch die Stars and Stripes wehten auf Halbmast.

B. musste an dem Tag zu einer Augenuntersuchung und würde danach ein paar Stunden nicht richtig sehen können. Ich holte sie von der Klinik ab, sie hakte sich bei mir unter, und wir gingen langsam den Blackstone Boulevard hinunter. Die Allee mit den uralten Bäumen, die ganz normal aussehen, wenn man nicht genau hinschaut, die aber immer exotischer und unbekannter werden, je näher man sie betrachtet. Diese Bäume wachsen nur hier, diese Vögel leben nur hier, der red cardinal und der blue jay, diese Tiere wissen gar nicht, wie schön sie sind. Wir lagen uns kurz in den Armen, weil die Menschen grundlos grausam sind, weil man unsere Community angegriffen hatte. B. wusste, was man in solchen Momenten tut, ich war der clumsy Deutsche, der nicht wusste, wohin mit seinen Gefühlen, der sich fragte, ob es nicht sentimental ist, sich unter diesen mystischen Bäumen zu umarmen aus Mitgefühl für eine Sache, die ganz woanders ganz anderen Leuten passiert ist. Ich dachte an das Wort canopy, wie hieß das nochmal auf deutsch, der Baldachin, das Himmelsgewölbe, etwas, das sich über uns aufspannt, über uns allen zusammen.

Am nächsten Wochenende verschenkte die Drogerie Muffins an die Leute, die mithalfen, den Müll aus dem Waldstück zu räumen, durch das der Providence River fließt. Die Stadtbibliothek veranstaltete eine Weinprobe in einer Kirche, um Geld zu sammeln. Und in der Woche drauf brachten die Webdesign-Leute im Coworking-Space ihre Kinder mit zur Arbeit, wie selbstverständlich, weil wegen Unwetters der Schulbus abgesagt wurde. Wo der Staat schrumpft, wächst das Rettende auch. ’Cause this is a community.

Vielleicht war all das auch gar nicht so sehr Amerika als schlicht das konkrete Kleinstadtleben, das ich bislang nicht kannte – ich hatte ja immer nur das abstrakte Großstadtleben. In Providence kannte ich meinen local representative, ich wusste, wo er wohnt. Ich saß am Nebentisch der Gouverneurin, wenn sie mit ihrer Tochter in dem kambodschanischen Lokal »Apsara« zu Mittag aß. Draußen wartete dann ein state trooper in seinem Auto mit der großen Antenne auf dem Dach und passte auf.

Am 8. November 2016 schauten wir die Wahl bis in die Nacht. Am nächsten Tag wachten wir in einem anderen Land auf. Das Zusammenleben unter einer gemeinsamen Idee, die sich über uns aufspannt, war verraten worden. Die Idee der Gastfreundschaft war verraten worden. Unsere Community war verraten worden. Die Bewohnerinnen und Bewohner des alternativen Wohnprojekts auf der Waterman Street hängten eine zerfledderte Amerika-Flagge an den Balkon. Die Waterman Street endet in einer nebligen Senke, wo die Heilsarmee ihr Büro hat, vor der sich in Schrumpffolie eingewickelte, gespendete Röhrenfernseher stapeln. Dahinter ein wilder Grünstreifen, der dem Staat gehört, und dahinter die Bucht mit dem Wasser, das gleichzeitig in zwei Richtungen fließt.

Amerika hatte tatsächlich einen Mann gewählt, der kein lebhaftes Experiment wollte. Einen, der raunt und pöbelt, der den Muslimen keinen blessed Ramadan wünscht. Einen, dessen unterhaltsamer Niedertracht sie zujubeln können. Einen Tag lang stand das demokratische Providence im demokratischen Rhode Island unter Schock. Dann kamen die E-Mails.

Der Bürgermeister, selbst Sohn von Einwanderern, Latino, lud ein zu einem »emergency meeting«. Ich bin nicht sicher, wo er meine Mailadresse her hatte, aber ich fühlte mich angesprochen. Ich war ja nicht von hier, ich durfte hier nicht wählen, aber ich war jetzt Teil der Community. Also ging ich in die Cafeteria der Hope High School, in der Erwartung, ein paar Dutzend besorgte Bürger anzutreffen.

Gekommen waren dreitausend. Die Cafeteria entpuppte sich als veritable Mensa. Vorne stand der Bürgermeister. Die Bürger waren ganz still, als er erklärte, Providence umgehend zu einer sanctuary city zu machen, man würde sich der Zusammenarbeit mit der Landespolizei verweigern, wenn die wegen Lappalien Daten der Stadtbewohner verlangen sollte. Man vermutet, dass solche Abfragen als Vorwand genutzt würden, Bürgerinnen und Bürger der Stadt abzuschieben. Es herrschte umstandslose Einigkeit, was jetzt zu tun sei: Widerstand leisten und denen beistehen, die unter der zu erwartenden Politik leiden müssen.

Im Shop herrschte grimmiger Ernst. Das hätte nicht passieren dürfen. Wie würde es jetzt weitergehen? Wie schützen wir unsere Community? Der Betrieb des Cafés bedeutete für die Murtons im wörtlichen wie übertragenen Sinn »feeding the community«, eine Formulierung, die etwas von Sozialarbeit hat. Der Shop war ein Dritter Ort, und für mich war es ein paar Jahre lang fast mein erster.

Ein paar Wochen später saß vor dem Shop ein fröhliches, mittelaltes Pärchen mit ihren Kaffees. Beide hatten Trump gewählt, und ich fragte, warum. Weil Hillary Blut an ihren Fingern hat, weil sie mit Kinderschändern unter einer Decke steckt, wie ihr Mann auch, und so weiter. Beide seien erwiesenermaßen Massenmörder. Solche Leute könne man nicht wählen. Ich saß im Café mit Leuten, die das wirklich glaubten. Ist das die community of misfits? Sind das die Leute mit den abweichenden Meinungen, die ich tolerant hinzunehmen hätte? Die Zeitungen waren nach der Wahl voll von Leuten wie diesen und ihren meist haltlosen Stories, die Fox News und weit schlimmere Websites in ihre Hirne gefräst hatten.

Ich erzählte B., wie auffällig ich es fand, dass auf dem »emergency meeting« niemand vorgeschlagen hatte, mit Leuten von the other side zu diskutieren oder herauszufinden, warum sie so jemanden gewählt hatten. In Deutschland würde jetzt erstmal diskutiert. B. gab mir eine wichtige Message mit: Du hast nur begrenzte Kraft; für wen willst du sie aufwenden? Sei für die Leute da, die Hilfe und Zuwendung brauchen. Die Leute, die Trump gewählt haben, können warten.

Diesen klugen Pragmatismus vermisse ich in Deutschland am meisten. Den klugen Pragmatismus, den Unternehmergeist und den sense of community.

Nach meiner Rückkehr nach Deutschland frage ich mich, ob die Geschichte mit der Community nicht einfach eine gute Erzählung ist, der ich aufgesessen bin. Ob sie eine kollektive Halluzination ist, zu der Amerika sich entschieden hat, weil sie das Leben in diesem wunderbaren, furchtbaren Land erträglicher macht. Schließt die Herstellung von Communities nicht genau so (und mehr) aus, wie sie einschließt? Sind solche Gemeinschaften nicht nur Romantisierungen pragmatischer Strategien, um sich gegen Vereinsamung zu wappnen? Sind die Narragansett Teil der Community? Das sind so Fragen, die man sich als Deutscher stellt, der zurück in Deutschland ist. Mit dreitausend Meilen Abstand klingen diese Fragen klug.

In Berlin hat »The Barn« mittlerweile die zehnte Filiale eröffnet. Die Geschäfte laufen gut, auch in Seoul und Dubai gibt es jetzt die Kaffees mit den Visitenkarten.

Vier Jahre später fliege ich wieder nach Rhode Island. Im Shop gibt es jetzt ausschließlich Außer-Haus-Verkauf. Der junge Barista von damals ist immer noch da und immer noch jung.

»Gabe! Good to see you!«

Ich muss ein bisschen schlucken. Es ist so, als wäre ich nie weg gewesen.

»Sie haben jetzt auch Cold Brew in Berlin. Aber er ist nicht so gut wie eurer.«

Ich bestelle einen und einen Chocolate Cookie mit grobem Salz.

»Ich hoffe, ihr macht bald wieder ganz auf.«

Diesen Sommer lese ich auf Instagram, dass der Shop zum Ende des Jahre schließt.

Ich frage JP, warum. Es ist, wie so oft bei eigentümergeführten Unternehmen, der fehlgeschlagene Versuch, das Kind in fremde Hände zu geben. JP wollte sich schon vor Jahren aus dem Tagesgeschäft zurückziehen, er bereitete alles vor, heuerte einen neuen Manager an – und dreizehn Tage später kam Covid. Er arbeitete mit dem Team Tag und Nacht, um den Laden am Leben zu halten. Der Versuch, den Shop an das Team zu verkaufen, schlug fehl. Und anderen Cafés wollten sie die Nutzung der Marke »The Shop« nicht erlauben. Also schlossen seine Frau und er das Café.

»Es ist das Richtige für uns, denn nur so können wir das Versprechen halten, das wir denen gegeben haben, die den Shop besucht haben.«

Es ist eine bittere, zwingende Logik: Der Shop bleibt seinen Gästen so in Erinnerung, wie er gedacht war. Cold Brew nur, wenn es draußen heiß ist, und Shop nur, wenn man ihn richtig macht. Ein Versprechen halten, indem man sein Geschäft schließt. Weil die Dinge eben doch an den Orten hängen und an den Menschen an diesen Orten und weil eben nicht alles egal ist.

JP schickt noch eine letzte Nachricht: »The Shop has mattered a great deal to a small but significant number of people. And that has mattered a great deal to me.«

Als ich den Shop das erste Mal besuchte, war ich ganz neu in der Stadt. Was ich damals nicht wusste: JP war erst kurz vor mir in die Stadt gekommen. Er war mit seiner Frau gerade aus New York hergezogen, und die beiden wollten irgendwie eine Beziehung zu ihrer neuen Nachbarschaft aufbauen. Leute kennenlernen, etwas für die lokale Community tun. Es gab einfach kein Café in dieser Gegend kurz vor dem Grünstreifen, der dem Staat gehört, hinter dem die Bucht beginnt, in der das Wasser in beide Richtungen fließt.

Was ist schon der Besuch eines Cafés gegen die Eröffnung eines Cafés?