Heft 858, November 2020

Sinneskolumne

Sensorischer Rassismus von Bodo Mrozek

Sensorischer Rassismus

Die Szene spielt in der Stadt Albuquerque im US-Staat New Mexico. Drei Studierende sitzen zusammen in ihrem Haus. Die Nächte sind bereits kühl, darum betreiben sie, das wird noch von Bedeutung sein, einen Heizlüfter. Kurz zuvor hatten sie beim Einparken vor dem Haus einen Bordstein geschrammt. Keine große Sache, es war kein Schaden entstanden, und so ist die Bagatelle schon fast vergessen, als eine Faust gegen die Tür hämmert. Den Rahmen der eilig geöffneten Tür füllt die mächtige Silhouette eines Streifenpolizisten aus, dahinter warten zwei weitere. »Ein Nachbar sagt, Sie alle waren in einen Unfall verwickelt.« Die Stimme des Polizisten klingt wie eine Drohung. Unbeeindruckt von der gestammelten Erklärung, es sei doch gar nichts passiert, kommandiert er: »Shut up!« und befiehlt alle vor die Tür.

Zwei Studierende folgen ihm. Die dritte beugt sich unter den Tisch, um noch schnell den Lüfter abzuschalten. Im Bruchteil einer Sekunde fällt die Hand einer Polizistin herab auf ihr Gürtelholster, in dem die Pistole steckt. »Langsam rauskommen«, befiehlt sie schneidend, die Hand am Holster. Nachdem seine Kommilitonin dem Kommando nachgekommen ist, presst der Student, der die Tür geöffnet hat, schließlich eine Entschuldigung hervor, man wolle künftig besser aufpassen. Als die Polizisten endlich abziehen, bricht es aus seiner Freundin hervor: »Du hättest Dich nicht entschuldigen sollen! Das war völlig unnötig.« Damit endet die kleine Szene.

Seit dem 25. Mai wissen wir, wie anders sie hätte ausgehen können. Der Tod von George Floyd, der unter dem Knie eines Streifenpolizisten erst das Bewusstsein und kurz darauf das Leben verlor, führt dies dramatisch vor Augen. Wir hätten es freilich schon früher wissen können, seit dem 6. Juli 2016, als der 32-jährige Philando Castile während einer Verkehrskontrolle in Minnesota erschossen wurde. Oder seit dem 12. April 2015, als der 25-jährige Freddie Gray Jr. in einem Streifenwagen in Baltimore zu Tode kam. Oder seit dem 17. Juli 2014, als der 43-jährige Eric Garner in New York im Würgegriff eines Polizisten starb. Oder auch schon lange davor, denn die lange Liste der bei Polizeikontrollen getöteten Menschen reicht tief in die amerikanische Geschichte hinein.

Was die Genannten mit dem Protagonisten der eingangs geschilderten Szene teilen: Sie alle sind Afroamerikaner. Christopher Brown, der damalige Student aus Albuquerque, ist heute Professor für Kommunikationswissenschaft an der Minnesota State University. Seine mehr als zehn Jahre zurückliegende Begegnung mit der Staatsmacht schildert er in einem soeben erschienenen Buch. Darin erzählt er nicht nur die Vorgänge selbst; minutiös protokolliert er vor allem seine Sinneswahrnehmung. Die verändert sich schon mit den ersten Schlägen gegen die Tür, »laut, schnell und unaufhörlich«. Das klar als »police knock« erkennbare Geräusch wirkte gleichsam viszeral auf Browns Körper ein: Es sendet »prompte, Angst induzierende Stimuli, die deinen Körper berühren und verzehren, ein kinetisch-taktiles Signal, das einen Schauer auslöst« und Erinnerungen an vorhergegangene Polizeibegegnungen weckt.

Viszerale Alarmsignale

Auch im weiteren Verlauf der Kontrolle verspürt Brown lebensbedrohliche Alarmsignale. Die körperliche Nähe des Polizisten, der Kommandoton, der Griff zum Holster, all dies erregt »ein somatosensorisches Feedback und triggert körperliche Sinneswahrnehmungen, die mit intensiven Emotionen korrespondieren«. Entscheidend ist dabei jedoch, dass Brown in dieser Situation mit seinen Wahrnehmungen alleine ist. Sie werden nicht von seinen beiden Kommilitoninnen geteilt, die Brown als Japanerinnen beschreibt, die zu jener Zeit erst seit kurzem in den USA studieren, eine von ihnen ist seine heutige Ehefrau und Co-Autorin Sachi Sekimoto, gleichfalls Professorin für Kommunikationswissenschaft. Seine spezifische Wahrnehmung klarer »Signifikanten für eine rassifizierte Begegnung mit der Polizei«, so führt Brown aus, musste ihr damals verborgen bleiben, weil andere Prägungen ihre Sinne vorstrukturieren.

An diese kontrastierenden Wahrnehmungsprotokolle knüpfen sich allgemeine wie spezifische Fragen. Sind unsere Wahrnehmungen individuell oder kollektiv verschieden? Strukturiert Erfahrung unser Sensorium vor? Und wenn race auch eine Frage der Sinneswahrnehmung sein sollte, was mögen dann die Polizistinnen der Eingangsszene wahrgenommen haben beziehungsweise, so lässt sich weiterführend fragen, gibt es dann auch einen sensorischen Rassismus?

Vor allem die letzte Frage dürfte auf den ersten Blick provozierend erscheinen, denn sie lässt sich weder mit aktuellen Definitionen von Rassismus noch mit verbreiteten Vorstellungen über die Funktionsweise der Sinne vereinbaren. Sinneswahrnehmung wird weithin als die organische Erfassung einer äußeren Realität verstanden – etwa mit Nase, Auge oder Ohr, die gleichsam mechanistisch-apparativ wie organische Kameras und Mikrofone gedacht werden. Rassismus hingegen gilt nicht zuletzt aus kritischer Perspektive als ein soziokulturelles Konstrukt und Ergebnis historisch gewachsener Machtstrukturen. Die Idee eines »sensorischen Rassismus« muss daher geradezu widersinnig erscheinen: Wie sollen die Sinne organisch wahrnehmen, was doch nur ein fiktionales Ergebnis rein kognitiver Operationen ist?

Um diese Frage zu beantworten, muss man an die Prämissen der kulturwissenschaftlichen Sensory Studies erinnern, in deren transdisziplinäres Feld sich auch Sekimoto und Brown begeben. Wahrnehmungen werden dort als Produkte eines Zusammenspiels verstanden, das gleichermaßen auf biologisch-organischen Vorgängen und auf kognitiven Prozessen basiert. Indem bestimmte Reize nicht nur vom Gehirn herausgefiltert, sondern überhaupt erst prädestiniert wahrgenommen, während andere Reize den Sinnen gewissermaßen entzogen werden, findet keine Eins-zu-eins-Erfassung einer Wirklichkeit statt. Die Ergebnisse von Wahrnehmungsakten sind nicht nur Ausschnitte einer Realität, sondern individuell oder kollektiv verschiedene Produktionen, in der Wahrnehmungsforschung »Perzepte« genannt.

Damit lösen sich die kulturwissenschaftlichen Sensory Studies vom apparativen Verständnis der Sinne (das sich nicht zufällig historisch zeitgleich mit Fonografie und Fotografie etablierte). So wird ein umfassenderes Verständnis solcher Perzepte möglich, die nicht nur individuell verschieden, sondern historisch bedingt und sogar politisch gelenkt sein können. Was für die gesamten Sinnesempfindungen gilt, betrifft dann auch – und womöglich sogar in besonderem Maß – den Rassismus.

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