Heft 843, August 2019

Von Anywheres und Somewheres

Das »Heimatbedürfnis der einfachen Menschen« ist ein ahistorisches Konstrukt von Bodo Mrozek

Das »Heimatbedürfnis der einfachen Menschen« ist ein ahistorisches Konstrukt

Als der Vorsitzende der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland seinen ersten Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, blieb der Protest nicht lange aus.1 Alexander Gauland hatte darin die Bildung einer »urbanen Elite« beklagt, die er als neue Klasse bezeichnete. Deren Mitglieder wohnten in Großstädten, sprächen fließend Englisch und zögen »zum Jobwechsel von Berlin nach London oder Singapur«, weswegen die Bindung »an ihr jeweiliges Heimatland« schwach sei. Die Historiker Wolfgang Benz und Michael Wolffsohn erkannten kurz nach der Veröffentlichung von Gaulands Text Parallelen zu einer Ansprache, die Adolf Hitler 1933 vor Arbeitern gehalten hatte. Darin hatte der »Führer« gegen »eine kleine wurzellose, internationale Clique« polemisiert, die überall und nirgends zuhause sei und mal in Brüssel, mal in Berlin lebe. Wolffsohn warf dem AfD-Vorsitzenden vor, dieser habe den hitlerschen Topos von der »Clique« zwar zur »globalistische[n] Klasse« aktualisiert, sich im Übrigen aber sinngemäß bei ihm bedient: »Nach dieser Methode wird aus den Städten Berlin, Brüssel, Paris, Prag, Wien oder London, zwischen denen die Internationalen bei Hitler hin und her ziehen, bei Gauland Berlin, London und Singapur.« Es handle sich daher bei Gaulands Rede um »Hitler light».2

Gauland distanzierte sich von diesem Vorwurf auf bereits vielfach erprobte Weise, indem er behauptete, die Rede Hitlers nicht zu kennen – und nutzte damit einmal mehr die Mechanismen von Provokation und halbherzigem Einlenken. Wenig später fiel Lesern des Berliner Tagesspiegel auf, dass Gauland sich offenbar auch großzügig bei einem Essay bedient hatte, den der Blogger Michael Seemann aka mspro dort zwei Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Seemann hatte in seinem Text die Kritik an »der globalen Klasse« jedoch keineswegs selbst vertreten, sondern als Topos der Populisten lediglich referiert, um diesen dann zu kritisieren. Man müsse sich in die Rechtspopulisten und Wutbürger »einmal hineinversetzen, muss den Slogans lauschen und ihre Narrative nachvollziehen. Man muss zwar nicht ihre Ängste, aber ihre Parolen ernst nehmen«, hatte Seemann dort geschrieben.3

Diesen Slogans, Ängsten und Parolen zu lauschen ermöglicht nun ein Vortrag, den Gauland im Januar 2019 in den Räumlichkeiten eines völkischen Kleinverlags in Sachsen-Anhalt hielt. (Nachzuhören ist er übrigens auf der weltgrößten Online-Videoplattform – was das Internet angeht, scheint Gauland der »Globalismus« nicht zu stören.) Unter dem Titel Populismus und Demokratie wiederholt er darin im Wesentlichen seine bereits aus der FAZ bekannten Thesen, freilich ohne die Kritik an seinem Artikel zu erwähnen. Als Kronzeugen für seine Schelte der urbanen Eliten ruft er diesmal geschickt sowohl die linke Zeitschrift New Statesman als auch den aus einer jüdischen Familie stammenden britischen Journalisten David Goodhart auf.4 Goodhart hat eine noch weitere politische Wanderung hinter sich als der ehemals migrationsfreundliche Ex-Christdemokrat Gauland. Vor einigen Jahren wurde der langjährige Redakteur der Financial Times und nach eigenen Angaben ehemalige Marxist vom Literaturfestival in Hay ausgeschlossen, auf dem er fünfzehn Jahre lang als Redner präsent war.5 Seine migrationskritischen Thesen bündelte er 2017 in dem Buch The Road to Somewhere.6 In dieser Schrift, die Gauland ausführlich zitiert, konstruiert Goodhart drei neue »Herkunftssoziotope«, auf die sich die britische Gesellschaft mittlerweile aufteile: die von ihm so genannten Anywheres, die Somewheres und die Inbetweeners.

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