Heft 885, Februar 2023

Sinneskolumne

Neue Sinne: Die Digitalisierung der Wahrnehmung von Bodo Mrozek

Neue Sinne: Die Digitalisierung der Wahrnehmung

Die Revolution aus der Flasche heißt »air up«, besteht aus BPA-freiem Tritan ohne Weichmacher und hat ein Mundstück aus lebensmittelechtem Silikon, wie es auch in Babyschnullern verwendet wird. Den »No-Brainer unter den Geschenkbundles für air up® Newbies« gibt es zum Einstiegspreis von 39,95 Euro. Enthalten sind eine Trinkflasche für pures Wasser, eine Reinigungsbürste und sechs Pods. Mit diesem Begriff bezeichnet der Hersteller aufsteckbare Kunststoffringe, die ein aromatisiertes Duftkonzentrat enthalten, das den Konsumierenden während des Trinkvorgangs von der Flaschenmündung aus in die Nase steigt. Dort übersetze das Gehirn die Geruchswahrnehmung aus dem Pod ins Register des Geschmacks und füge dem puren Wasser so eine gustatorische Note hinzu. Zur Wahl stehen unter anderem Kirsche, Cola, Pfirsich und Limette. Das von dem umstrittenen Investor Frank Thelen unterstützte, unlängst wegen seiner wenig nachhaltigen Lieferketten aus China und der Türkei kritisierte Unternehmen rühmt sich, zu »88 Prozent plastikeffizienter als Einweg-Plastikflaschen« zu sein und ein kalorienfreies Geschmackserlebnis zu simulieren.

Zum kommerziellen Erfolg der Riechflaschen mit Schnuller mag aber auch das implizite Versprechen beitragen, eine Erfahrung zu demokratisieren, die nach landläufiger Vorstellung nur wenigen außergewöhnlich Empfänglichen zugänglich ist: jene der Synästhesie. Mit diesem Begriff wird die Koppelung oder Vertauschung gewöhnlich voneinander getrennter Sinnesmodalitäten bezeichnet, also etwa das Sehen von Klängen – oder eben das Schmecken nicht mit Zunge und Gaumen, sondern mit den Geruchsrezeptoren der Nase. Allerdings ist beim Entstehen eines Geschmackseindrucks im Gehirn (neben anderen Rezeptoren) die Nase ohnehin beteiligt, die auch Duftmoleküle der Nahrung beim Verzehr durch den Rachen aufnimmt – ein Vorgang, der als retronasale Aromawahrnehmung (beispielsweise Weintrinkern) lange bekannt ist und die Produktidee damit etwas weniger »revolutionär« erscheinen lässt.

Die Riechtrinkflasche ist nicht der einzige Versuch, der gegenwärtig darauf abzielt, die Wahrnehmung durch Technisierung zu erweitern – oder zumindest zu verändern. Auch das schon ältere Versprechen einer virtuellen Realität, wie es im milliardenschweren Metaverse des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg auf neue Weise Gestalt annehmen soll, beruht auf hochtechnisierten Verfahren, die auf die Sinnesorgane zielen. Mittels Bildern aus der VR-Brille und Klängen aus dem »ear bud« soll eine artifizielle Kreation so glaubhaft vorgespiegelt werden, dass sie als ebenso real erscheint wie das, was die menschliche Wahrnehmung sich sonst so aus der Vielzahl vorhandener sensorischer Informationen herausfiltert und im Gehirn als Realität zusammensetzt. Die koordinierte Steuerung verschiedener Reize spricht dabei nicht nur das Sehen und Hören, sondern auch den Raum-, Gleichgewichts- und Orientierungssinn an. Ähnliche Ideen beschäftigen unter dem Begriff »Immersion« seit Jahren die Bildende Kunst: das Eintauchen in eine artifizielle Welt mit mehreren Sinnen.

Bislang aber läuft das als Nachfolger des vergleichsweise flachen Netzwerks Facebook angekündigte Metaverse nur schleppend an, vielleicht weil der Mensch, an traditionelle Text-Bild-Ton-Medien gewöhnt, derlei Sinneserweiterungen eher skeptisch gegenübersteht. Möglicherweise ist aber auch das Gegenteil der Fall: Die bunte neue Welt hinter der VR-Brille ist deshalb enttäuschend, weil in der verpixelten Parallelgesellschaft nicht zu viele, sondern zu wenige Sinne angesprochen werden, um das Immersions-Versprechen tatsächlich einzulösen. So wird darüber spekuliert, dass der cleane, ja, aseptische Eindruck der virtuellen Sphäre defizitär wirke, weil der Geruchssinn darin eben nicht stimuliert wird.

Doch an Abhilfe wird bereits gearbeitet: Die Firma Sony entwickelt schon seit Jahren Geruchskartuschen, die mittels gezielter Duftstoff-Infusionen in die VR-Brille auch die Nase an der Konstruktion einer virtuellen Welt beteiligen sollen. Das Gehirn soll – ähnlich wie bei der Riechflasche – die Bilder mit den Gerüchen zusammenbringen und dabei vergessen, dass es sich um bloße Bilder handelt. Auch das amerikanische Unternehmen OVR Technology laboriert bereits seit den späten 1990er Jahren an einem Magazin für neun synthetische Basisaromastoffe, aus denen sich via Bluetooth-Signal mehrere hundert Kompositionen mischen lassen sollen, womit sich auch E-Mails oder Videokommunikation odorieren ließen wie anno Tintenfass der parfümierte Liebesbrief.

Solche Experimente sind nicht ganz neu, und sie sind eng mit Visionen aus Bildender Kunst, Musik und Literatur verbunden. Das Konzept eines selbstgestalteten Avatars, mit dem man sich durch das Metaverse bewegt, hatte der Schriftsteller Neal Stephenson 1992 in seinem genrebildenden Cyberpunk-Roman Snow Crash erdacht. Als vor rund zwei Jahrzehnten die Online-Community Second Life seine Idee adaptierte, zeigte er jedoch wenig Interesse an der kommerziellen Umsetzung seiner literarischen Idee. Die als Paralleluniversum entwickelte neue Netzwelt floppte nach einer kurzen Phase der Euphorie und führt seitdem eine Nischenexistenz. Bereits sechzig Jahre zuvor hatte Stephensons Kollege Aldous Huxley für seine dystopische Schöne Neue Welt eine Geruchsorgel ersonnen, auf der sich »herbale Arpeggios« aus Thymian und Lavendel, Rosmarin, Basilikum, Myrte, Estragon und einer Handvoll weiterer ätherischer Düfte als Nasenmusik spielen ließen.

Machinae obscurae: Augenklavier und Farborgel

Gedankenexperimente zur apparativen Verbindung unterschiedlicher sensorischer Register lassen sich aber auch schon im frühen 18. Jahrhundert finden. Zu einiger Berühmtheit brachte es etwa die Erfindung des Augenklaviers. Der 1725 von Louis-Bertrand Castel konstruierte Apparat sollte etliche Probleme auf einmal lösen. Unter anderem sollte er Kunstmaler für die Harmonien und Dissonanzen von Farben sensibilisieren, Musik auf Papier speichern und auch künstlerische Laien zur Herstellung von Bildern ermächtigen.

Zwar bezog sich Castel auf Isaac Newtons naturwissenschaftliche Opticks (1704) und behauptete selbstbewusst, 800 000 Instrumente verkaufen zu wollen, doch spricht einiges dafür, dass er seine Idee tatsächlich (ähnlich wie später Neal Stephenson seinen Avatar) eher als ästhetisch-philosophisches Gedankenexperiment verstand denn als Geschäftsidee, die sich apparativ und kommerziell umsetzen ließe: Es ist kein einziger Bericht bekannt, der das Instrument jemals in Aktion beschrieben hätte.

Konkreter wurde Castels Zeitgenosse Ernst Florens Friedrich Chladni, als er um 1782 Musikinstrumente wie das Euphon und den Clavicylinder vorstellte, die heute als Beiträge zur Fundierung einer wissenschaftlichen Akustik gelten. Seine visuellen Klangbilder, die er auch als Tapetenmotive zu vermarkten suchte, gelten dem Medienwissenschaftler Dieter Daniels ebenso wie Castels fiktives Instrument als frühe Versuche einer »Koppelung von Theorie, Sinnlichkeit und Apparat« und damit als technikgeschichtliche Marksteine der »Korrespondenzen von Visuellem und Auditivem zugleich«. Ihre Fortsetzung fanden sie in wissenschaftlichen Instrumenten wie dem von Werner von Siemens gebauten Schwingungs- oder Vibrationsmikroskop, das Klänge in Form sich überlagernder sogenannter Lissajous-Figuren visualisiert.

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