Sinneskolumne
Neue Sinne: Die Digitalisierung der Wahrnehmung von Bodo MrozekNeue Sinne: Die Digitalisierung der Wahrnehmung
Die Revolution aus der Flasche heißt »air up«, besteht aus BPA-freiem Tritan ohne Weichmacher und hat ein Mundstück aus lebensmittelechtem Silikon, wie es auch in Babyschnullern verwendet wird. Den »No-Brainer unter den Geschenkbundles für air up® Newbies« gibt es zum Einstiegspreis von 39,95 Euro. Enthalten sind eine Trinkflasche für pures Wasser, eine Reinigungsbürste und sechs Pods. Mit diesem Begriff bezeichnet der Hersteller aufsteckbare Kunststoffringe, die ein aromatisiertes Duftkonzentrat enthalten, das den Konsumierenden während des Trinkvorgangs von der Flaschenmündung aus in die Nase steigt. Dort übersetze das Gehirn die Geruchswahrnehmung aus dem Pod ins Register des Geschmacks und füge dem puren Wasser so eine gustatorische Note hinzu. Zur Wahl stehen unter anderem Kirsche, Cola, Pfirsich und Limette. Das von dem umstrittenen Investor Frank Thelen unterstützte, unlängst wegen seiner wenig nachhaltigen Lieferketten aus China und der Türkei kritisierte Unternehmen rühmt sich, zu »88 Prozent plastikeffizienter als Einweg-Plastikflaschen« zu sein und ein kalorienfreies Geschmackserlebnis zu simulieren.1
Zum kommerziellen Erfolg der Riechflaschen mit Schnuller mag aber auch das implizite Versprechen beitragen, eine Erfahrung zu demokratisieren, die nach landläufiger Vorstellung nur wenigen außergewöhnlich Empfänglichen zugänglich ist: jene der Synästhesie. Mit diesem Begriff wird die Koppelung oder Vertauschung gewöhnlich voneinander getrennter Sinnesmodalitäten bezeichnet, also etwa das Sehen von Klängen – oder eben das Schmecken nicht mit Zunge und Gaumen, sondern mit den Geruchsrezeptoren der Nase. Allerdings ist beim Entstehen eines Geschmackseindrucks im Gehirn (neben anderen Rezeptoren) die Nase ohnehin beteiligt, die auch Duftmoleküle der Nahrung beim Verzehr durch den Rachen aufnimmt – ein Vorgang, der als retronasale Aromawahrnehmung (beispielsweise Weintrinkern) lange bekannt ist und die Produktidee damit etwas weniger »revolutionär« erscheinen lässt.
Die Riechtrinkflasche ist nicht der einzige Versuch, der gegenwärtig darauf abzielt, die Wahrnehmung durch Technisierung zu erweitern – oder zumindest zu verändern. Auch das schon ältere Versprechen einer virtuellen Realität, wie es im milliardenschweren Metaverse des Facebook-Gründers Mark Zuckerberg auf neue Weise Gestalt annehmen soll, beruht auf hochtechnisierten Verfahren, die auf die Sinnesorgane zielen. Mittels Bildern aus der VR-Brille und Klängen aus dem »ear bud« soll eine artifizielle Kreation so glaubhaft vorgespiegelt werden, dass sie als ebenso real erscheint wie das, was die menschliche Wahrnehmung sich sonst so aus der Vielzahl vorhandener sensorischer Informationen herausfiltert und im Gehirn als Realität zusammensetzt. Die koordinierte Steuerung verschiedener Reize spricht dabei nicht nur das Sehen und Hören, sondern auch den Raum-, Gleichgewichts- und Orientierungssinn an. Ähnliche Ideen beschäftigen unter dem Begriff »Immersion« seit Jahren die Bildende Kunst: das Eintauchen in eine artifizielle Welt mit mehreren Sinnen.2
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