Sinneskolumne
Bewaffnete Organe: Sensory Warfare von Bodo MrozekBewaffnete Organe: Sensory Warfare
Der Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan im Sommer dieses Jahres wurde weithin als Kapitulation wahrgenommen. Schnell standen die zurückgelassenen »afghanischen Verbündeten« nicht nur im Fokus der Nachrichtentexte, sondern auch in dem der Kameras. Neben den Bild-Ton-Reportagen, in denen Schüsse zu hören und Menschen zu sehen waren, die sich vor dem Kabuler Flughafen drängten, während sich Einzelne in ihrer Verzweiflung an das Fahrwerk einer startenden Maschine hängten, fand ein Standbild besonders viel Aufmerksamkeit.
Das hochformatige Foto datiert vom 15. August 2021 und zeigt das Innere einer U.S. Air Force C-17 Globemaster III, eines Transportflugzeugs, das sich laut Bildlegende auf dem Weg ins Emirat Qatar befindet. Männer, Frauen und Kinder in ziviler Bekleidung füllen die Fläche des Laderaums restlos aus. Nach Angaben der Agentur Reuters handelt es um 640 Personen in der für maximal 134 Passagiere ausgelegten Globemaster. Auf dem Foto laufen die Bordwände der Maschine als zwei Bilddiagonalen im 45-Grad-Winkel aufeinander zu, zwischen ihnen verliert sich die Menschenmenge, aus der im Vordergrund noch Gesichter herausstechen, zur anonymen Masse. Der Fluchtpunkt befindet sich mittig im oberen Bilddrittel in der Rückwand des Laderaums: ein schwarzes Rechteck, aus dem die Menschen herausgeströmt zu sein scheinen.
Auch wenn zum Zeitpunkt der Veröffentlichung über die genauere Bestimmung und das weitere Schicksal der Flüchtenden nichts bekannt sein konnte, kehrte das Foto die Kausalität bildlich geradezu um: Afghanistan als schwarzes Loch, aus dem die US-Airforce unter unbürokratischer Ignorierung der Beförderungsbestimmungen Leitplanken in die Freiheit gewiesen hatte. Diese Umkehrung ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil das historische Momentum des Truppenabzugs genau gegenteilig gewertet wurde. Den Kommentaren zufolge hatte der »überhastete« Abzug erst das Machtvakuum geschaffen, dem die Menschen nun schutzlos ausgeliefert waren. Jene 640 Personen ins Bild zu setzen hieß gleichzeitig, die vielfache Zahl von Menschen auszublenden, denen eine Ausreise eben nicht möglich war.
Die emotionale Wucht des Fotos war enorm. Es wurde tausendfach in Netzwerken geteilt und kommentiert, besonders in Deutschland, denn hier traf es mit einer Meldung zusammen, derzufolge die Luftwaffe der Bundeswehr eine Maschine mit nur 17 Menschen in Kabul hatte starten lassen. In etlichen Posts wurde das US-Foto mit demjenigen aus dem Innenraum einer deutschen Maschine kontrastiert, in der nur eine Handvoll Menschen saßen. Dass dieses Foto allerdings bereits aus dem Jahr 2017 stammte, ging dabei ebenso unter wie die Quelle des US-Fotos.
Verbreitet wurde es von Reuters. Die ursprüngliche Quelle war jedoch Defense One, eine Nachrichtenagentur, deren Informationen eigenen Angaben zufolge dem Zweck dienen, die »Zukunft der Verteidigung und der nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten zu definieren«. Es dauerte nur zwei Tage, bis die Bundeswehr ein Foto veröffentlichte, das den Blick in den Laderaum einer diesmal ebenfalls dicht mit Flüchtenden gefüllten Airbus-Transportmaschine öffnete. Man wird darin unschwer eine Logik erkennen, die keineswegs nur den Prinzipien nachrichtlicher Berichterstattung folgt, sondern auch militärischen Kommunikationsstrategien von public diplomacy.
Bewaffneter Blick
Beides – der glanzlose Truppenabzug und die ihn begleitenden Bildstrategien – ähnelt den »Bilderfronten« des sowjetisch-afghanischen Kriegs von 1979 bis 1989, die der Osteuropa-Historiker Markus Mirschel umfangreich analysiert hat. Die damaligen Kriegsfotografen folgten strikten Blickregimen. Private »Knipserfotos« waren den Soldaten von Anfang an verboten; Bilder wurden nach gezielten Vorgaben inszeniert, oftmals durch Beschnitt korrigiert und sodann gezielt in der Presse veröffentlicht. Kämpfer des »begrenzten Kontingents sowjetischer Truppen« (OKSVA) wurden zunächst – getreu der schon damals ausgegebenen Direktive, es handele sich um rein logistische Unterstützung und Ausbildung – nicht im Gefecht abgebildet. In Szene gesetzt wurde nur die »sozialistische Bruderhilfe« durch Nachschubsicherung und Ausbildung; Fotos von Kampfhandlungen blieben der in der Sprache der Bildpropaganda stets siegreichen afghanischen Armee vorbehalten.
Als Werkzeuge dieser Militärhilfe wurden auch damals Flugzeuge zu Bildikonen des Afghanistankriegs, neben Hubschraubern vor allem Propellermaschinen mit Heckrampe vom Typ Antonow. Sowohl für Truppentransporte als auch für Aufklärungszwecke eingesetzt, symbolisierte die An-12 gleichermaßen überlegene Militärtechnik als auch physischen Abstand zum Kampfgeschehen. Mirschel zeichnet nach, wie sich ihre Bedeutung im Kriegsverlauf radikal änderte. Als der Blutzoll dieses Kriegs mit annähernd 12 000 Opfern allein auf sowjetischer Seite kaum noch zu leugnen war, waren es abermals An-12-Flugzeuge, in denen nun die Zinksärge der Gefallenen zurücktransportiert wurden, zu Geheimhaltungszwecken codiert als »Fracht 200«. Im Volksmund firmierten die Flugzeuge seitdem als »schwarze Tulpen«. Damit hatte sich das Bildzeichen diametral verkehrt: Aus einem Symbol technischer Überlegenheit war eines der strategischen Niederlage, menschlicher Verluste und individueller und kollektiver Trauer geworden.
Mirschel schlägt den Bogen von der Geschichte der Fotografie zu der des Sehens: Soldaten nahmen Posen ein, wie sie für die Heldenporträts des »Großen vaterländischen Kriegs« typisch waren: eine gereckte Haltung im Halbprofil, die den Blick auf die mit Orden geschmückte Heldenbrust freigibt. Hubschrauberformationen ahmten die typischen Bilder der Panzerformationen des Zweiten Weltkriegs nach. So bildeten nicht nur die Fotos die Realität ab, sondern die Realität gab sich immer öfter Mühe, den idealtypischen Vorgaben der Fotoregie zu folgen: Die Fotografie prägte das Sehen und umgekehrt, und beide beeinflussten das Verhalten auch dann, wenn keine Kameras anwesend waren.
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