Heft 877, Juni 2022

Sokratismus

Philosophie als Engagement von Konstantin Petry

Philosophie als Engagement

Praxis statt Wahrheit

Im Frühjahr 1954 hielt Hannah Arendt an der University of Notre Dame eine Reihe von Vorträgen unter dem Titel Philosophie und Politik. Das Problem von Handeln und Denken nach der Französischen Revolution. Der Untertitel der Veranstaltung verhieß zwar eine Beschäftigung mit der Gegenwart, wurde jedoch von Arendt selbst nicht allzu ernst genommen, wie sich am dritten Vortrag zeigt. Sokrates – Apologie der Pluralität widmet sich dem historischen Moment, den Arendt als den Beginn der Entfremdung zwischen Politik und Philosophie identifiziert: der Verurteilung des Sokrates.

Das Ergebnis lässt sich in zweierlei Hinsicht leicht kritisieren. Zum einen ist da die Trennung des Sokrates von der literarischen Überlieferung, die sie vornimmt, etwa wenn sie schreibt, »ein großer Teil der politischen Philosophie des Aristoteles, insbesondere jener, wo er in ausdrücklichem Widerspruch zu Platon steht«,1 gehe auf Sokrates zurück. Schließlich ist es unmöglich zu wissen, worin Sokrates’ Philosophie besteht, weil er uns allein durch Platon, Xenophanes und Aristophanes vermittelt ist – als Figur in Dramen und Dialogen.

Auch Arendt muss auf diese Überlieferung zurückgreifen, wobei sie sich im Großen und Ganzen auf Platon beschränkt. Diesen liest sie unkritisch, nach dem in der Tradition vorherrschenden Paradigma als Vertreter der Ideenlehre. Richard Rorty – der dieser Lesart sonst aus theoretisch-strategischen Gründen ebenfalls folgt – gibt jedoch, nicht ganz unbegründet, im Spiegel der Natur zu bedenken, dass man auch bei Platon nicht genau wisse, was für ein Philosoph er war, »denn nach Tausenden von Interpretationsversuchen weiß immer noch keiner, welche Textstellen in den Dialogen bloß scherzhaft gemeint sind«.2 Hier liegt das zweite große Problem des Essays: Arendt übergeht in der Auseinandersetzung mit Platon seine spezifische literarische Form und liest ihn stattdessen inhaltistisch.

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