Heft 917, Oktober 2025

Vom »Osten« und vom Ankommen in der Demokratie

von Thorsten Holzhauser

»Der Osten« ist und bleibt ein wiederkehrendes Thema der öffentlichen Debatte in Deutschland. Die einen versuchen immer wieder aufs Neue zu zeigen, dass die DDR mehr war als Mauer und Stasi, nämlich ein Ort der »Chancen und Zugehörigkeit« für seine Bürgerinnen und Bürger. Sie treten damit einem Narrativ der 1990er Jahre entgegen, das in der wissenschaftlichen Debatte längst aufgegeben ist, in der politischen Diskussion aber nachwirkt. Zugleich finden diese Deutungen in einem Diskurskontext statt, der »Ostdeutschland« zu einem dezidiert antiwestlichen Erinnerungsort macht, der in dieser konstruierten Form anschlussfähig ist für allerlei illiberale politische Ideologien der Gegenwart. Bis hin in die Fußballstadien Dresdens, Aues und Rostocks, wo der rhythmische Ruf »Ost-, Ost-, Ostdeutschland« ostdeutsche Identitätsbildung mit »wessi«- und ausländerfeindlichen Motiven auflädt.

Diese Formen der Identitätsbildung wiederum stehen einem Diskurs gegenüber, der nicht nur – zu Recht – an die diktatorische Natur des Staates DDR erinnert. Zugleich werden dabei die genannten Phänomene antiliberaler Identitätsbildung im Heute als Folge illiberaler Erfahrung im Gestern gekennzeichnet und als Ausdruck einer unvollständigen Abkopplung oder gar eines ausgebliebenen Lernprozesses gedeutet. Demnach ist der Osten oder sind Teile davon noch immer nicht »in der Demokratie angekommen«, wie der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer Marco Wanderwitz im Mai 2021 konstatierte.

Wo die eine Interpretation auf eine Aufwertung und Eingrenzung ostdeutscher Identität abzielt, bleibt das Bild »des Ostens« in der anderen Deutung durch Defizitbeschreibungen geprägt. Unzufriedenheit und Protest, Demokratieskepsis und Elitenkritik, autoritäre und rassistische Einstellungen, Rechtsextremismus und Populismus werden in beiden Deutungsmustern zum Kennzeichen Ostdeutschlands. Wobei der Osten für die einen nicht in der liberalen Demokratie angekommen ist, während er für die anderen dort auch nicht ankommen soll.

Dass diese gegensätzlichen Positionen gerade in den letzten Jahren in voller Schärfe deutlich werden, liegt nicht zuletzt am Vordringen der AfD, die in weiten Teilen Ostdeutschlands mittlerweile fest verankert ist. Während sie auf der einen Seite zunehmend als hegemoniale ostdeutsche Volkspartei gesehen wird, die vermeintlich typischen »ostdeutschen« Befindlichkeiten besser als alle anderen Ausdruck verleiht, sind ihre Erfolge den anderen Anlass zu kritischen Nachfragen über den Stand der demokratischen Konsolidierung in den ehemals neuen Bundesländern: Sind Teile Ostdeutschlands tatsächlich in der Diktatur »hängengeblieben«, wie es Katrin Göring-Eckardt im Juli 2023 formulierte?

Die beiden Zitate von Wanderwitz und Göring-Eckardt zeigen: Das Bild von den »Ossis«, die den Weg aus der Diktatur in die Demokratie noch nicht zu Ende gegangen sind, ist mehr als ein westdeutsches Klischee. Vielmehr wird darin eine Schlüsselvorstellung der jüngeren deutschen Geschichte deutlich, die viel über den Verlauf der deutschen Einheit und unsere Vorstellungen von der Demokratie verrät – und die doch schnell gänzlich ins Leere führt, weil sie mehr verschleiert als offenlegt.

Daran sind mindestens drei Missverständnisse schuld: Erstens beruht der ostdeutsche Demokratisierungsdiskurs bis heute auf einem expliziten oder impliziten Ost-West-Vergleich, der dazu neigt, ein Idealbild vom Westen und seiner demokratischen Kultur zu zeichnen und zugleich ein Zerrbild westdeutscher Realitäten produziert. Die Ostdeutschen sollten nach 1989 nicht so werden, wie die Westdeutschen waren – sondern, wie diese glaubten, dass sie seien. So hat es der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk pointiert formuliert und damit ins Schwarze getroffen, denn der Vergleich zwischen Osten und Westen orientierte sich in der Tat stets mehr an einer Idealvorstellung als an der Realität. Genauso wie die antiwestlichen Ressentiments in Teilen der ostdeutschen Gesellschaft auf Unkenntnis »des Westens« oder der Verdrehung westdeutscher Realitäten beruhen.

Zweitens fördert das Bild vom Ankommen ein statisches Verständnis von Demokratie als einem festgefügten Gebilde, das sich klar umreißen lässt und das sich, ist es einmal etabliert, nicht mehr maßgeblich verändert. Diese gerade im politischen Diskurs verbreitete Vorstellung widerspricht aber gänzlich den Erkenntnissen der historischen Demokratieforschung, die ihren Gegenstand längst als schillerndes Phänomen versteht, das es synchron in vielen Spielarten gibt und das sich diachron stets wandelt.

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