Heft 914, Juli 2025

Von Weimar lernen

von Thomas Hertfelder

Unsere Erinnerung an die Republik von Weimar unterliegt markanten Schwankungen. Galt diese in der alten, westdeutschen Bundesrepublik noch als Paradigma einer gescheiterten Demokratie und Schreckbild für eine stets auf Stabilität und Sicherheit bedachte Ordnung, so war es nach 1989/90 für eine ganze Weile erstaunlich still um sie geworden. Fast reflexhaft wurden in den mit Verve geführten Debatten um »Deutschlands Wiederkehr« (Peter Bender) das Kaiserreich und die NS-Diktatur aufgerufen; die Weimarer Republik spielte in diesem neuen Deutschland-Diskurs kaum eine Rolle. Vor allem aber fand sie in der gleichzeitig einsetzenden Hochkonjunktur der internationalen Holocaust-Forschung, die mit einer neuen, nunmehr gänzlich auf »Aufarbeitung« getrimmten Erinnerungskultur einherging, keinen Platz mehr. Dies mag im Rückblick insofern verwundern, als wichtige Studien, die von Detlev Peukerts prominenter Interpretation der Weimarer Republik als den »Krisenjahren der klassischen Moderne« inspiriert worden waren, inzwischen auf durchaus beunruhigende Weise eine ganze Reihe von missing links zwischen der liberalen Demokratie von Weimar und den Praktiken der darauffolgenden totalitären Diktatur zutage gefördert hatten. Jedenfalls war das »Lehrstück Weimar«, wie Andreas Wirsching noch im Jahr 2012 lapidar feststellte, dem »Lehrstück Holocaust« gewichen.

Bereits damals hatte indessen jene Serie schockartiger Verwerfungen eingesetzt, die die Weimarer Republik nach und nach wieder ins öffentliche Bewusstsein zurück befördern sollten: Von der Weltfinanzkrise 2008/09 über den steilen Anstieg der Migrationsströme nach Europa in den Jahren 2015/16 und die beklemmenden Jahre der Pandemie bis hin zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erschütterte ein regelrechtes Stakkato von Krisenerfahrungen die westliche Welt, die seither zusehends aus den Fugen zu geraten scheint. Eine sich lange anbahnende und ebenso lange unterschätzte, zuletzt aber steil ansteigende Welle rechtsextremistischer Populismen tat ein Übriges, um das Gespenst der »Weimarer Verhältnisse« wieder auf den Plan zu rufen.

Unter dieser Überschrift stand auch jene Debatte, die namhafte Historikerinnen und Historiker 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausgetragen haben. Das Fazit: Allen Unkenrufen geschichtsbeflissener Kommentatoren zum Trotz sind wir von »Weimarer Verhältnissen« noch immer weit entfernt, weil die konkrete Konstellation unserer Tage doch eine deutlich andere ist als die zwischen 1918 und 1933. Damit scheint die alte Frage, ob wir aus »Weimar« überhaupt etwas für unsere Gegenwart lernen könnten, erneut ad acta gelegt. Mit dem definitiven Bedeutungsverlust der pädagogisch einst so wertvollen These vom deutschen Sonderweg scheint auch der didaktische Nutzen der Weimarer Erfahrungen endgültig verbraucht.

Nach Koselleck: Lehren aus der Geschichte?

Historikerinnen und Historiker bestreiten ebenso gerne wie nachdrücklich, dass sich aus den Ergebnissen ihrer Forschungen ein Anwendungswissen zur Bearbeitung gegenwärtiger Probleme gewinnen lasse. Zur Begründung rufen sie in der Regel eine Autorität auf, der zu widersprechen im Fachdiskurs riskant erscheint: Reinhart Koselleck. Seit der »Sattelzeit« zwischen 1750 und 1850, so Koselleck, war die Geschichte in der Reflexion der Zeitgenossen aus naturalen Zeitbestimmungen wie dem Umlauf der Gestirne und der Abfolge der Dynastien herausgetreten, um sich neuartigen, geschichtsimmanenten Narrativen zu verschreiben. Aufklärerische Ideen einer Erziehung des Menschengeschlechts sowie eine neue Geschichtsphilosophie, die die aufkommende Veränderungsdynamik in robuste Fortschrittsnarrative umzudeuten wusste, haben den bis dahin wirksamen antiken Topos einer Historia magistra vitae definitiv aufgelöst. So ist aus jenen »Geschichten«, die eine vorrevolutionäre, pragmatische Geschichtsschreibung zum Zwecke exemplarischer Belehrung der Nachgeborenen noch aufgeschrieben hatte, die »Geschichte« als Kollektivsingular im Sinne eines universalen Ereigniszusammenhangs geworden – und damit ein Reflexionsbegriff, der in den ideologischen Debatten fortan eine zentrale Rolle spielen sollte. Diese Geschichte konnte zwar im Licht der Großideologien des 19. und 20. Jahrhunderts zum Subjekt geadelt werden, aufgrund ihrer dramatischen Veränderungsbeschleunigung indessen nicht mehr als Exempel wirken, aus dem man unmittelbaren Nutzen hätten ziehen könnte.

Das Argument ist schwer zu widerlegen. Geschichte wiederholt sich nicht. Es leuchtet ein, dass uns in der »neuzeitlich bewegten Geschichte« (Koselleck) ein unmittelbar anwendbares, historisches Erfahrungswissen unwiderruflich abhandengekommen ist. Zwar hatten nach dem Zerfall des Topos von der Historia magistra vitae fortschrittsfrohe Geschichtsphilosophen und modernistische Sozialingenieure für eine Weile noch geglaubt, der Prozess der Geschichte ließe sich gezielt steuern, wenn man nur sein wahres Subjekt identifiziert oder die richtigen Stellschrauben makroökonomischer Planung gefunden habe. Doch waren diese Utopien mit dem Ende der Trente Glorieuses offenkundig verbraucht. Übrig blieb das muddling through eines permanenten, weitgehend der Gegenwart verschriebenen Krisenmanagements.

Bei alledem wird die andere Seite des Koselleckschen Werks, die Stefan-Ludwig Hoffmann herausgearbeitet hat, gerne übersehen. Den beschleunigten Wandel nämlich, der der Vorstellung einer Historia vitae magistra den Boden entzogen hat, können wir nur deshalb konstatieren, weil uns überzeitliche Kategorien und Strukturen dazu in die Lage versetzen. Mehr noch – bestimmte Strukturen wiederholen sich: »Es gibt Dimensionen, diachroner und synchroner Art, die zeitlich verschieden tief gestaffelt sind und über die uns auch weit zurückliegende Historiker belehren können, weil die Geschichte sich strukturell wiederholt«, notierte Koselleck 1988. Dabei ging es dem Bielefelder Historiker nicht um zyklische Geschichtsverläufe, sondern um Konstellationen und Strukturen mittlerer Dauer, die in späteren Zeiten als »Erfahrungsmodelle« – so sein Terminus – diskutiert werden können.

In der Tat müssen wir jenseits formaler Kategorien, die uns historische Erkenntnis überhaupt erst ermöglichen, auch materiale Strukturen in Betracht ziehen, wenn wir historische Prozesse und Ereignisse angemessen begreifen wollen. Von einer Krise des Parlamentarismus können wir nur sprechen, weil der Parlamentarismus samt seiner Varianten in bestimmten Gesellschaften eine Struktur von relativer Dauer darstellt; ähnliches gilt für den Hoch- und Spätkapitalismus, der trotz seiner Stadien und Spielarten bestimmten Verwertungsimperativen gehorcht, nach bestimmten Mustern ökonomische und soziale Verwerfungen hervorbringt etc. Bei allem Wandel stellen solche Strukturen den Rahmen bereit, innerhalb dessen wir über mögliche »Lehren«, die wir aus historischer Reflexion gewinnen können, wieder nachdenken sollten.

Für die Frage nach möglichen »Lehren von Weimar« heißt dies zunächst: Um sie zu erwägen, braucht es keine Weimarer Verhältnisse. Insofern gilt weiterhin, dass die Geschichte sich nicht wiederholt. Was aber unsere und die Weimarer Zeit jenseits einer amorphen »Polykrise« verbindet, ist eine auf kapitalistische Verwertungsimperative gegründete ökonomische Ordnung, ein über Volkssouveränität sich legitimierendes politisches System, das in unterschiedlichen Gewichtungen auf parlamentarische Repräsentation setzt, eine hochdynamische Mediengesellschaft sowie schließlich eine kulturelle Moderne, die ihre eigentümliche Kreativität nicht zuletzt aus den vielfachen Fragmentierungen und Polarisierungen im sozialen Raum bezieht.

Vor diesem Hintergrund halte ich es für fruchtbarer, über mögliche, keineswegs zwingende Lehren, die wir aus den Weimarer Erfahrungen ziehen können, wieder zu diskutieren, statt sie mit dem reflexhaften Verweis auf das Verblassen eines antiken Topos beiseite zu wischen. Im Bann des Koselleckschen Arguments und im Wissen um die grenzenlose Komplexität ihrer Themen übt die zeithistorische Forschung – anders als eine diesbezüglich geradezu unbekümmert agierende Politikwissenschaft – größte Zurückhaltung, gegenwärtige Problemlagen im Licht historischer Erfahrungen zu diskutieren. Eine solche Abstinenz ist methodisch durchaus nicht zwingend und birgt praktisch die Gefahr der Selbstmarginalisierung der Disziplin.

Weimar als Exempel

Medien. Das Foto fand sich über Jahrzehnte hin fast in jedem Schulbuch: Reichspräsident Friedrich Ebert, Reichswehrminister Gustav Noske und einige Begleiter posieren am 16. Juli 1919, bekleidet nur in Badehosen, am Ostseestrand von Haffkrug lächelnd vor einer Kamera, deren Bedeutung im Dispositiv der neuen Mediengesellschaft die Herren vor Ort weit unterschätzt hatten. Das Foto, das ein Strandfotograf mit dem offenkundigen Einverständnis der Abgelichteten geschossen hatte, fand zunächst über die Deutsche Tageszeitung, sodann über die Berliner Illustrirte Zeitung seinen Weg in die Öffentlichkeit. Dass die Berliner Illustrirte mit der Aufnahme ausgerechnet am Tag von Eberts Vereidigung als Reichspräsident am 21. August 1919 großformatig aufmachte, war kein Zufall. Der Vorgang verweist vielmehr auf die Aufmerksamkeitsökonomie einer technisierten Mediengesellschaft und auf das Skandalisierungspotenzial, Privates im privatwirtschaftlich organisierten öffentlichen Diskurs jederzeit politisch auszuschlachten. Zu immer neuen Schmähbildern war das Foto verarbeitet worden – einzig zu dem Zweck, das demokratische Staatsoberhaupt und mit ihm die noch junge Demokratie verächtlich zu machen.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit der beim MERKUR-Newsletter hinterlegten E-Mail-Adresse erhalten Sie Zugang zum vollständigen Artikel.

Noch kein Newsletter-Abonnent? Kostenfrei anmelden.
Nach der Anmeldung erhalten Sie eine E-Mail mit einem Bestätigungslink, den Sie bitte anklicken, um Ihre E-Mail-Adresse zu bestätigen und den Newsletter zu aktivieren. Sie können den Newsletter jederzeit abbestellen.

E-Mail-Adresse erfolgreich überprüft! Die Seite wird in 3 Sekunden neu geladen ...
E-Mail-Überprüfung fehlgeschlagen. Bitte bestätigen Sie Ihre E-Mail-Adresse (Double Opt-In).
Bitte versuchen Sie es erneut.

Weitere Artikel des Autors