Heft 896, Januar 2024

Zonenbildung

von Daniel Immerwahr

Wer im Jahr 1950 im 102. Stock des Empire State Building stand, war auf dem Gipfel der Welt angekommen. Vom höchsten Gebäude der Welt aus sah man herab auf die Wall Street, das Finanzzentrum der Welt. Oder blickte in Richtung des Metropolitan Museum of Art, eines der größten Kunstmuseen der Welt. Die aus dem Hafen auslaufenden Schiffe gehörten zur größten Handelsflotte der Welt, die transportierten Güter waren im industriellen Zentrum der Welt hergestellt worden.

Heute sieht es anders aus. Das höchste Gebäude der Welt, der Burj Khalifa, steht in Dubai. Die größten Handelsflotten fahren unter den Flaggen von Panama, Liberia und den Marshallinseln. Das Produktionszentrum der Welt liegt in China, Manhattan konkurriert um Bankgeschäfte mit den Kaimaninseln, und die Sammlung des Met hat Konkurrenz durch das Genfer Zollfreilager bekommen, eine geheimnisvolle Lagerstätte, von der man über das, was sich dort gerade befindet, kein Sterbenswörtchen erfährt.

Das ist es, was die Globalisierung bewirkt: Sie bringt Räume durcheinander. Ein globales Angebot trifft auf eine globale Nachfrage, und voilà: Schon eröffnet eine KFC-Filiale in Kirgisistan. Trotzdem: Ausgerechnet das kleine Panama soll die meisten Handelsschiffe besitzen? Die Kaimaninseln – drei kleine Inseln südlich von Kuba – verfügen über eines der größten Finanzsysteme der Welt? Diese Verhältnisse können unmöglich das Ergebnis einer weltweiten Jagd nach den besten Arbeitskräften und Ressourcen zu den niedrigsten Kosten sein.

Das sind sie auch nicht. Eher verdanken sie sich dem globalen Wettbewerb möglichst gefügiger Gesetzgebungen. Ausgerechnet die Kaimaninseln! Die kleine Kolonie war in der Historie eigentlich nicht für ihre Banken bekannt. Die erste öffnete ihre Pforten im Jahr 1953, und zwar in der Praxis eines Zahnarzts auf der einzigen gepflasterten Straße von George Town. Doch die Gesetze versprechen Steuerfreiheit für Ausländer, und die Banken hüten ihre Finanzgeheimnisse mit Inbrunst. Das macht die Kaimaninseln zu einem Ort, an dem sich die Spuren des Geldes im Sand verlieren.

Für den Historiker Corey Tazzara waren solche Orte lange die »schmutzigen Geheimnisse der Moderne«. Schweizer Bankkonten etwa haben seit mehr als einem Jahrhundert als Versteck für Vermögen gedient. Doch in den letzten Jahrzehnten haben sich derartige Sonderzonen – kompakte, ausgewiesene Gebiete, in denen die normalen Regeln nicht gelten – von einem Randphänomen zu einem bestimmenden Faktor der Wirtschaft entwickelt. Der Kapitalismus im Zeitalter der Globalisierung hat die Welt nicht, wie von vielen erwartet, zu einem flachen, einheitlichen Raum homogenisiert. Entstanden ist vielmehr ein Flickenteppich an Rechtssystemen. Mittlerweile gibt es auf der Welt mehr als 5400 Wirtschaftsenklaven: Landgüter, Inseln, Parks, Steuerschlupflöcher, Freihäfen, Zolllager, Exportverarbeitungszonen, Sonderwirtschaftszonen, Freihandelszonen, Freipunkte und dergleichen. Ein Geograf hat sie gezählt und kam auf zweiundachtzig unterschiedliche Bezeichnungen.

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