Heft 867, August 2021

Zwischen Freiheit und Verantwortung Wider eine utopische Verfassungsinterpretation

von Isa Bilgen

Das Grundgesetz gewährt mit den Grundrechten die Freiheit des Einzelnen und schützt sie in erster Linie auch vor dem Staat. Dieser hat die individuelle Freiheit zu achten, zu der die Selbstbestimmung als Kernelement der Menschenwürde gehört. Andererseits verpflichtet das Grundgesetz den Staat zum Schutz von Leben und Gesundheit seiner Bürger. Vor allem die Exekutivgewalt steht dabei in einer doppelten Verantwortung. Während der Pandemie hat sie allerdings nicht selten an die Eigenverantwortung der Menschen appelliert. Es stellt sich die Frage, ob schon in dem bloßen Eigenverantwortungsappell ein Verstoß gegen die genannte Verfassungspflicht des Staates zu sehen ist. Oder systematischer: Wann ist Staatshandeln als illegitimer Paternalismus verfassungsrechtlich bedenklich, und wann ist ein zu weicher Paternalismus als pflichtwidrige Untätigkeit der Politik zu werten? Es geht also um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in einem Grundsatzstreit: »zu viel Staat« vs. »zu wenig Staat«.

Freiheit und Sicherheit

In Krisen wie der Corona-Pandemie befindet sich die Gesellschaft typischerweise zunächst vor einer unerforschten und daher ungewissen Tatsachengrundlage. Die praktische Politik muss trotzdem schnell handeln, wobei es oft nicht leicht ist, auf Anhieb einzuschätzen, welche Schritte und Maßnahmen die Verfassung im Verhältnis von Sicherheit und Freiheit erlaubt. Gefragt ist dann verfassungsrechtliche Expertise; es kommen allerdings auch die Positionierungen der Experten unter Zeitdruck zustande. Zumal es unumstrittene Wahrheiten auch hier höchstens im ganz Grundsätzlichen geben kann. In der Theorie mögen Freiheit wie Sicherheit normativ prägende und absolute Ideale sein, in der Praxis sind sie nur relativ realisierbar. Darüber, dass es prinzipiell um Sicherheit unter Wahrung maximaler Freiheit zu tun ist, mag in der politischen Philosophie und darüber hinaus eine gewisse Einigkeit herrschen. Für die politische Praxis ist damit wenig gesagt.

Zwei relativ früh in der Krise ergangene Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts sind bezeichnend für diesen Grundsatzkonflikt. In einem Beschluss aus dem Mai 2020 hatte die Klage eines 65-Jährigen keinen Erfolg, der sich durch die Lockerungen der Maßnahmen in seinem Grundrecht auf Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt sah.1 Tags darauf wurde die Klage eines jüngeren Beschwerdeführers abgewiesen, der die Einschränkungen für die Gruppe der unter 60-Jährigen für generell unverhältnismäßig hielt, weil das Virus für sie nicht gefährlicher sei als andere Viren und weil niemand zum Selbstschutz gezwungen werden könne.2

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