Merkur, Nr. 406, April 1982

Tod in Jerusalem. Am Grabe von Gershom Scholem — am Ende einer Ära

von Jürgen Habermas

Es war am 22. Februar in Jerusalem, eine Stunde nach Mittag. Mitten auf dem Platz vor der Akademie der Wis­senschaften, deren Präsident Scholem ein Jahrzehnt gewesen war, stand, zunächst etwas verlassen, die schmale Tragbahre mit dem am Tage zuvor Ge­storbenen — sarglos, eingehüllt in ein blaues Tuch mit den weißen Schriftzei­chen der Universität Jerusalem. Für un­sere Augen betont dieses ungeschützte Arrangement unter freiem Himmel beides: die Gebrechlichkeit, das Ausge­liefertsein an die Kontingenzen einer einsichtslosen Natur, und das Schutzbe­dürfnis, das Angewiesensein auf den Kreis der Familie und der Nächsten. Im Laufe der folgenden Stunde versammelt sich eine große Gemeinde. Hier treffen sich vor allem die Älteren und natürlich die aus Deutschland Emigrierten, die »Jeckes«; unter ihnen die Gestalt des alten Ernst Simon und eine ganze Reihe von jenen, deren Namen wir aus den Briefen und Büchern Scholems kennen. Die Unruhe der Kameraleute macht auf das Eintreffen Navons, des Staatspräsi­denten aufmerksam. Aber eine eigent­lich feierliche Stimmung kommt in den nun dicht gedrängten Reihen, die ein Halbrund bilden, nicht auf. Fern aller protestantischen Innerlichkeit verbin­det sich das vom Vorsänger besorgte Ri­tuelle der Ansage und des Gebets mit der Formlosigkeit eines eher alltäglichen Vorgangs.

Als erster spricht Ephraim Urbach, der Präsident der Akademie. Für mein Ohr lösen sich aus dem hebräischen Vortrag nur einzelne Worte ab, die ich wiedererkenne: »Zimzum«, die Selbstverschränkung Gottes, und »Tiqqun«, die erlösende Rückkehr zu den Anfän­gen. Ich weiß nicht, ob auch vom »Bruch der Gefäße« die Rede ist, jenem katastrophischen Ereignis im Schöpfungsvorgang, das nach den Vorstellun­gen der Kabbalisten noch innerhalb des göttlichen Wesens selbst eine originäre Unordnung hervorbringt und damit auch jenes Problem entstehen läßt, das den heilsgeschichtlichen Prozeß an­treibt: Wie können die zerstreuten gött­lichen Funken aus ihrer Einkapselung in der Welt des Materiellen befreit und »eingesammelt« werden? Nach dem Fall Adams und dem Sturz einer bei­nahe vollendeten Schöpfung spitzt sich dieses Problem zu. Gott hat sich nun so weit zurückgezogen, daß die Rückfüh­rung der Dinge an ihren ursprünglichen Ort der Anstrengung der Menschen überantwortet wird. Die Menschen sel­ber müssen das Dokument schreiben, für welches der Messias nicht mehr be­deutet als eine fehlende Unterschrift. Aus dem gleichen Antrieb, die zersto­benen Funken des göttlichen Lichts ein­zusammeln, die Splitter einer messiani­schen Zukunft zu bergen, läßt sich auch Scholems eigene Lebensgeschichte ver­stehen – sowohl das wissenschaftliche Lebenswerk des großen Judaisten wie auch die lebenslange Anstrengung des um Walter Benjamin werbenden Freundes.

Scholem hat die positivistischen In­strumente der geisteswissenschaftlichen Tradition, die er mit Souveränität handhaben konnte, für ganz unpositivi­stische Zwecke eingesetzt. Er hat die verlorengegangenen Spuren der mit den Namen Isaac Luria verbundenen Schule von Safed gesichert und jene von Sabat­tei Zwi inspirierte Bewegung ans Licht gebracht. Diesem »mystischen Mes­sias«, der um die Mitte des 17. Jahrhun­derts große Teile des über Europa und den Vorderen Orient verstreuten jüdi­schen Volkes in Erregung versetzt hat, gilt Scholems noch nicht ins Deutsche übersetztes Hauptwerk.

Luria gibt der kabbalistischen Über­lieferung eine Deutung, die die Leidens­erfahrungen des Exils auf unerhörte Weise dramatisiert. Ihr zufolge wieder­holt das Exil der Juden nur ein Schick­sal, dem sich Gott selbst unterworfen hatte, als er sich, um für die Schöpfung sozusagen Platz zu machen, in sich selbst zurückziehen, ein Exil in sich an­treten mußte. Luria begründet in dia­lektischen Bildern eine Tradition, die mit den »denkfaulen« Emanationsvor­stellungen bricht und die affirmative Rolle des Negativen beleuchtet: die Kraft der Negation wird zur Schubkraft im Prozeß des Heilsgeschehens. Diese Idee nimmt in der gesetzesbrecheri­schen Praxis des Sabattei Zwi prakti­sche Gestalt an. Noch sein im Angesicht des Sultans erzwungener Übertritt zum Islam kann als ein extremer Akt der be­zwingenden Überbietung des Bösen mit den Mitteln der Sünde verstanden wer­den. Scholem folgt den Spuren dieses Messianismus, der in Aufklärung und Nihilismus umschlägt, bis zu Kafka. Er weiß, daß die leidenschaftlich ersehnte Erneuerung des Judentums unter den Bedingungen der Moderne steht – und darum aus den Quellen der Orthodoxie nicht vollzogen werden kann.

 

 

Diese Intention ist, wie ich glaube, nicht zu trennen von jenem hartnäcki­gen Impuls, der seine Freundschaft mit Walter Benjamin getragen hat – vier Jahrzehnte über dessen Tod hinaus. Diese Beziehung hat sich fast aus­schließlich über das Medium des ge­schriebenen Wortes erhalten — zunächst durch den intensiven Austausch äußerst skrupulöser Briefe, dann, von seiten des Überlebenden, durch eine geradezu detektivische Arbeit der Rekonstruk­tion. Davon legen noch die beiden letz­ten, im Merkur veröffentlichten Auf­sätze Zeugnis ab: Scholems biographi­sche Aufzeichnungen über jenen ge­heimnisvollen Herrn Noeggerath, der für Benjamin während seiner Münchner Studienzeit eine faszinierende Bezugsperson gewesen sein muß; sowie Scho­lems wohldokumentierte Vermutungen über den rätselhaften Inhalt jener in­zwischen verlorenen Tasche, die Ben­jamin unmittelbar vor seinem Tode als Kleinod mit sich geführt haben soll. Scholem hat wohl in der Mentalität des Freundes nach dem Vermögen jenes rettenden Blickes gefahndet, den er einmal so charakterisiert: »Es gibt in der Kabbala etwas wie einen verwan­delnden Blick, von dem zweifelhaft bleibt, ob man ihn besser als einen magi­schen oder als einen utopischen Blick bezeichnen sollte. Dieser Blick enthüllt alle Welten, ja das Geheimnis von En­sof selber, an dem Ort, an dem ich stehe. Man braucht nicht über das zu verhan­deln, was ›oben‹ oder ›unten‹ ist, man braucht nur [nur!] den Punkt zu durch­schauen, wo man selber steht.«

Dies ist der achte von »Zehn unhisto­rischen Sätzen über Kabbala«, die Scholem 1938 an einer entlegenen Stelle veröffentlicht und erst 1970, im dritten Band seiner Judaica, einer brei­teren Öffentlichkeit zugänglich ge­macht hat. (Judaica 3, Frankfurt 1973, 270) Das Besondere an diesem Text ist der Umstand, daß Scholem hier nicht als Historiker, sondern in eigener Sache spricht. Er ist übrigens deutsch ge­schrieben; erst in den letzten Monaten hat Fania Scholem davon eine hebräi­sche Übersetzung angefertigt.

Scholems Schriften haben auf die im Nachkriegsdeutschland herangewach­senen Generationen zunehmend Ein­fluß gewonnen. Nicht nur der judaisti­sche Gelehrte, sondern Geist und Ge­stalt im Ganzen konnten diese Wirkung erlangen, weil Scholem mit einer unbe­stechlichen und makellosen wissen­schaftlichen Prosa heute einer der be­deutendsten Schriftsteller deutscher Sprache ist. Die Muttersprache, die er so bewundernswert beherrscht, ist die Sprache des Landes, das er 1923 verlas­sen hat, um sich dem Aufbau Israels zu widmen. Wir können uns deshalb nicht darüber beklagen, daß in den Reden an seinem Grabe kein deutscher Satz gesprochen worden ist.

An der Stirnseite des schmalen und kahlen Grabes, das soeben von den Freunden zugeworfen und mit aufgelesenen, unregelmäßig aneinandergereihten Steinen eingefaßt worden war, lag verloren ein kleiner Strauß roter Tulpen. Einzig der deutsche Botschafter hatte zwei pomphafte Kränze mit grellen Schleifen neben das Grab gelegt – vom Bundespräsidenten und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin. Als er meinen entsetzten Blick sah, meinte er: »Hätten wir es nicht getan, wäre es auch falsch gewesen.« Und damit hatte der Botschafter wohl nicht ganz unrecht.

Scholem hat vielen von uns für das jüdische Schicksal die Augen geöffnet. In seinen Schriften hat er uns über Jahrhunderte des Exils belehrt, vor allem über die Erfahrungen, die sich in den messianischen Bewegungen spiegeln. Mit seiner Existenz aber, das heißt mit der durch den Gang der Geschichte auf das Grauenhafteste beglaubigten Grundentscheidung seines Lebens, hat er uns, und zwar unerbittlich, auch darüber belehrt, wie tief die Entzweiungen der deutschen und der jüdischen Schicksale in der deutschen Geschichte angelegt waren. Um so dankbarer konnten wir sein, als Scholem, über diesen Abgrund hinweg, die Fäden wieder aufgenommen und freundschaftliche Netze geknüpft hat. Während des letzten Jahrzehnts war er oft in Deutschland. Zuletzt hat er noch das Wissenschaftskolleg, als dessen Gast er für ein Jahr in seine Geburtsstadt zurückkehren wollte, mit einer großen Rede eröffnet.

Die Freunde in Israel waren sich in dem Empfinden einig, daß mit Scholem eine Ära zu Ende gegangen ist. Für uns stirbt mit ihm eine Generation von Lehrern, in deren Person ein Stück unkorrumpierter eigener Vergangenheit gegenwärtig war.


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