Jürgen Habermas

Verrufener Fortschritt – verkanntes Jahrhundert
Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie

Merkur, Nr. 147, Mai 1960

 

„In dem Übergang vom Fortschritt von gestern zur Neuerung von heute kommt das nach-cartesianische, nach-neuzeitliche Weltbild klar zum Ausdruck.“ Peter F. Druckers Studie, die gewiß nicht hält, was ihr Titel munter verspricht (Das Fundament für Morgen, Econ-Verlag, Düsseldorf 1958), ist dennoch als Selbstzeugnis jener neukonservativen Strategie von Interesse, die die Schlachtordnung des europäischen Bürgerkriegs, mit deren an Fortschritt und Rückschritt sich bildenden Fronten, überwunden zu haben glaubt. Der neue Konservatismus ist dem alten darin überlegen, daß er sich nicht länger ziert, von einem entwurzelten Baum der Aufklärung die Früchte zu ernten: der technizistische Optimismus der Teilplanung ist der anthropologischen Resignation vor dem überkommenen Ganzen integriert.

Die wissenschaftlich geplanten „Neuerungen“ in der Sphäre von Produktion und Konsum, auch die wissenschaftlich angeleiteten „Neuerungen“ im Bereich der Verwaltung, rücken aus der Zone von Schrecken und Hoffnung heraus; sie erscheinen wie vom „Fortschritt“ abgelöst — dem Wesen der Menschen und dem, was sie für wesentlich halten, schlechthin äußerlich.

Die Prozesse technischer und organisatorischer Rationalisierung, denen Max Weber wertfrei diesen Namen gab, sind, wie es scheint, in der Ordnung, die sie hervorgebracht haben, selber zu einem Teil, zu einem verfügbaren Bestandteil geworden. Darum, meint Drucker, verstehen wir gar nicht mehr die Frage nach den Folgen solcher Veränderung — als ob sie überhaupt an die Substanz der menschlichen Natur, an „die Tragik im menschlichen Leben“ rühren könnten: „Wir betrachten den Wechsel nicht als Änderung der Ordnung — weder zum Besseren noch zum Schlimmeren hin. Wir betrachten den Wechsel als Ordnung an sich.“ Mit anderen Worten: die technisch-organisatorischen Fortschritte geben für das, was das 18. Jahrhundert unter Fortschritt verstand, nichts her.

Die Idee des sozialen Fortschritts zerplatzt, wo sie als Moment der bestehenden Ordnung realisiert, in deren Rahmen zur „sozialen Neuerung“ verplant wird. Diese „will traditionelle Werte, Glaubensbekenntnisse und Gewohnheiten für neue Leistungen einsetzen, oder alte Ziele auf neue, bessere Art erreichen . . .“. Das einst revolutionäre Fortschrittsmotiv wird in der entschärften Gestalt der „Neuerung“ zum Kern der Stabilisation. Zugleich widerfährt es dem Positivismus, nicht erst seit Comte ein Teil der Aufklärung, im Namen der Gegenaufklärung adoptiert zu werden. Die alten Prämissen des neuen Konservatismus, die unsere Geisteswissenschaften ihrem Ursprung aus dem romantischen Geist der Historischen Schule verdanken, können nun auch in die Gesellschaftswissenschaften eindringen.

Waren damals schon, in der Verfremdung des quellenkritischen Studiums, nicht ohne Anstrengung die traditionalistischen Ergebnisse als die organologischen Vorwegnahmen der vorausgesetzten Volksgeistlehre zu entziffern, um wieviel schwieriger ist die Identifizierung der erkenntnisleitenden Interessen heute, da sich der gegenaufklärerische Impuls des von der Aufklärung selber hervorgebrachten methodischen Apparats zu bedienen weiß. Die Weltanschauung gibt sich spezialistisch, handelt ideologiekritisch ihr Alibi ein. Denn was bürgte für Wissenschaftlichkeit wirkungsvoller als der positivistische Gestus gegen Utopie; und wer beherrschte diesen besser selbst als der Positivismus, wenn nicht die neuen Konservativen, die die positivistische Kritik an der Geschichtsphilosophie quasi geschichtsphilosophisch überbieten.

Auf dieses Geschäft läßt sich freilich Drucker nicht ein. Es finden sich jedoch, um sein schwankendes „Fundament“ zu befestigen, zwei vorzügliche Arbeiten jüngerer Autoren. Beide, Reinhart Koselleck und Hanno Kesting, begreifen die gegenwärtige Weltkrise als Ausbreitung der mit der Französischen Revolution ausbrechenden Krise des europäischen Bürgerkrieges über den ganzen Erdball. Der Ost-West-Konflikt gewinnt im utopischen Selbstverständnis konkurrierender Geschichtsphilosophien Gestalt. Diese haben in der Kritik, die sich Aufklärung nannte, ihre gemeinsame Wurzel. Derart erscheinen Kritik und Krise einander zugeordnet. Im 18. Jahrhundert trete die Geschichte über die Ufer der Tradition, beginne die „utopische Moderne“, die im 20. Jahrhundert ihr Ende finden soll; mit ihr verliere die Deutung der Gegenwart aus dem Horizont möglichen Fortschritts, mit ihr Geschichtsphilosophie als solche ihr Recht. Was Drucker noch unbeholfen als den Übergang „vom Fortschritt zur Neuerung“ anzeigte, interpretieren Koselleck und Kesting als Ende der Geschichtsphilosophie; und zwar stellt sich ihnen dieser Vorgang so dar, als schriebe die kritisierte Geschichte selber die Metakritik der Geschichtsphilosophie.

 

Koselleck (Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Verlag Karl Alber, Freiburg 1959) begreift die Aufklärung aus einer Dialektik von Politik und Moral, die in der Ausgangsstellung der bürgerlichen Intelligenz im absolutistischen Staat vorgezeichnet ist. Unter dem Absolutismus wird der konfessionelle Bürgerkrieg stillgestellt. Der Monarch erfüllt den Auftrag der Friedensstiftung durch Monopolisierung der öffentlichen Gewalt und eine Privatisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Das Staatsinteresse ist der Kompetenz des Gewissens entzogen und der Souveränität des Fürsten ausschließlich überantwortet. Die Gesinnungen bleiben, wie in Hobbes Staatslehre, für die Regierung folgenlos. Politische und moralische Gesetzlichkeit sind streng getrennt. Die Staatsraison verlangt vom Fürsten ein Verhalten nach Regeln der Klugheit; die privatisierte Religion von den Untertanen ein Verhalten nach Regeln der Sittlichkeit. Bevor Kant am Ende des folgenden Jahrhunderts die Übereinstimmung des einen mit dem anderen, die Konvergenz von Politik und Moral selbstverständlich als ein Postulat der Rechtslehre aufstellen kann, vollzieht sich jener Prozeß der Kritik, der die bürgerliche Gewalt selber zur öffentlichen erhebt. Der zuvor private Raum der Innenwelt weitet sich zur Öffentlichkeit aus, und die Kraft der Öffentlichkeit durchdringt den Staat.

Die bürgerlichen Privatleute schließen sich zum Publikum zusammen; ihr Raisonnement schafft eine indirekte Gewalt; in den Salons, den Klubs und den Logen, Kaffeehäusern und Tischgesellschaften findet eine moralische Gerichtsbarkeit, die schließlich auch den Fürsten vor ihr Forum zitiert, ihre frühen Institutionen. Koselleck untersucht an exemplarischen Zeugnissen der Geistesgeschichte die Etappen der Politisierung, von der humanistischen Bibelkritik angefangen, über die unpolitische Kritik der Gelehrtenrepublik, die indirekt politische Kritik der Literaten bis zur Anwendung der Gesetze reiner und praktischer Vernunft auf die Gesetze von Staat und Gesellschaft — Turgot und Kant.

Allein, die Prägnanz der angezogenen Texte, die Subtilität ihrer klugen Interpretation, die Eleganz der hergestellten Perspektiven werden eigentümlich von Ressentiment begleitet. Da ist die Rede vom bürgerlichen Intelligenzler, der als Autor schon Urheber von Autorität zu sein glaube; da ist die Rede von der prinzipiellen Verlogenheit der autonomen Kritik, die unfähig sei, eine Lüge taktisch als Waffe einzusetzen. Da muß Kant sich bescheinigen lassen, daß Kritik zur Hypokrisie verdumme; und Rousseau entgeht nicht dem Verdikt der Einfalt, weil er zu Ende denkt, wovor Bayle noch zurückscheute — die Okkupation des Staates durch das Gesetz oder république des lettres, in der jeder eines jeden Souverän ist. Koselleck polemisiert gegen den kritischen Prozeß, weil er ihn unaufhaltsam der Krise zusteuern sieht. Krise ist ihm nämlich gleichbedeutend mit der Entfesselung des Bürgerkrieges — 1789 —; und als die wohltätige Fessel des Bürgerkrieges gilt die im Absolutismus durchgeführte Trennimg von Moral und Politik.

Die kritische Annektion der öffentlichen Gewalt durch die Privatsphäre scheint vor allem darum so „kritisch“, weil sie sich nicht als ein politischer Akt versteht; „das heißt die Krise war nur deshalb eine solche, weil sie als politische Krise im Grunde verdeckt blieb.“ Noch deutlicher: „Die Moralisierung der Politik war um so mehr eine Entfesselung des Bürgerkriegs, als in dem Umsturz, in der ‚Revolution‘, gerade kein Bürgerkrieg erblickt wurde, sondern eben die Erfüllung moralischer Postulate.“

Das Argument, das die polemischen Symptome auf ihre Ursache zurückbringt, wird erst im Zusammenhang einer halb verstohlenen, halb verhohlenen politischen Anthropologie ganz durchsichtig. Weder ist nämlich, auf den ersten Blick, einzusehen, warum der „Bürgerkrieg“ — im Gegensatz zum Krieg der Staaten untereinander — als das schlechthin Böse erscheinen soll; noch wird es klar, warum die „Verdeckung des Politischen“ — zuerst die literarische Kritik der fürstlichen Befehle nach Maßstäben der Humanität, später die Bindung des Souveräns an die vom Parlament gesetzten generellen Normen — eo ipso im Terror des Bürgerkriegs ersticken muß. Kurzum, die These des Buches, daß die als indirekte politische Gewalt etablierte Kritik notwendig die Krise auslöst, ist, für sich genommen, nicht eigentlich überzeugend. „Die alles erfassende Kritik weitet sich zwar auf die Politik aus, verzichtet aber nicht auf ihren eigenen unpolitischen, das heißt auf ihren vernünftigen, natürlichen oder moralischen, das Vorrecht der Wahrheit garantierenden Anspruch.“

Die Formulierung des inkriminierten Tatbestandes verrät den Maßstab der Diskriminierung. Das „politische Element“ ist, frei nach Carl Schmitt, die rational unauflösbare Substanz eines herrscherlichen Willens, der sich einzig durch die nackte Existenz der Herrschenden selber legitimiert; andererseits ist die menschliche Natur, frei nach Arnold Gehlen, so beschaffen, daß sie dieses politischen Elements, nämlich der Abstützung der vagierenden Antriebe und des plastischen Verhaltens durch autoritär verfestigte Institutionen, bedarf. Wenn Kritik an deren irrationalen Kern rührt, das dezisionistische Risiko nicht dahingestellt sein läßt, sondern Autorität zu rationaler Legitimation auffordert; wenn sie „immer neue Gründe findet, um der souveränen Aktion zuvorzukommen, für die es im eigentlichen Sinne des Wortes keinen Grund gibt“ — dann zerstört sie die Bedingungen menschlicher Existenz. Ausdruck dieser Zerstörung ist politisch die Anarchie des Bürgerkrieges, anthropologisch die der Triebe.

Diese politische Anthropologie wird in der Untersuchung nirgends thematisch; aber sie bestimmt alle Fragen und verstellt manche Antworten. So faßt Koselleck nicht zufällig die Entstehung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit, und die Rückbeziehung des Staates aufs Raisonnement der zum Publikum versammelten Privatleute, unter dem einseitigen Aspekt einer Dialektik von Politik und Moral. Diese wird freilich im 18. Jahrhundert, bis in den Bedeutungshorizont des damals so eigentümlich betonten Wortes „social“ hinein, stets mit „Natur“ und „Vernunft“ zusammengedacht. Aber das, was die Öffentlichkeit nach Maßgabe des ordre naturel in öffentlicher Diskussion ermitteln sollte, das Vernünftige, zugleich Richtige und Rechte, ist nicht etwa darum schon den privaten moralischen Gesinnungen gleichzusetzen.

Das entspricht weder dem Selbstverständnis der gens de lettres noch dem, was mit der Anwendung des öffentlichen Raisonnements der Privatleute auf die politische Gewalt tatsächlich geschah. Die privaten Ansichten werden ja, durch Öffentlichkeit zur öffentlichen Meinung vermittelt, in ihrer Substanz verändert. Lockes „Law of Private Censure“ beruft sich allerdings auf die opinions der Bürger, nicht schon auf so etwas wie public opinion; Koselleck verwechselt eins mit dem andern. Noch Rousseaus volonte generale entspringt eher den bloßen opinions als einer opinion publique, nämlich jener durch Diskussion bereits filtrierten Meinung des von ihm denunzierten public éclairé.

Indem Koselleck einerseits private Gesinnungen mit öffentlicher Meinung identifiziert, andererseits das Prinzip der öffentlichen Diskussion als eins des Bürgerkriegs diskreditiert, muß er die objektive Intention der Öffentlichkeit verkennen, die sich auf der Basis einer vom Staat sich emanzipierenden bürgerlichen Gesellschaft zuerst in England, dann in Frankreich als die neue Sphäre ausbildet. Ihrer eigenen Idee zufolge sollte Publizität der politischen Entscheidungen es ermöglichen, den Grundsatz auctoritas non veritas facit legem umzukehren: nämlich die Tätigkeit des Staates durch öffentliches Raisonnement mit dem Interesse der Nation, faktisch mit dem bürgerlichen Klasseninteresse in Übereinstimmung zu bringen. Nicht Moralisierung der Politik als solche, sondern ihre durch das Prinzip der Öffentlichkeit vermittelte Rationalisierung war die Absicht; sie fand später widerspruchsvoll in der Gestalt des bürgerlichen Rechtsstaates ihre Erfüllung, sobald die Öffentlichkeit im Parlament als Staatsorgan institutionalisiert wurde. Zugleich steckt in jener Absicht, wie sehrauch ihrer Funktion nach bloße Ideologie, die Idee, daß politische Autorität im Medium einer solchen Öffentlichkeit in rationale sich auflösen, Herrschaft in ihrem Aggregatzustand sich wandeln würde. [1. Erst Engels wird das, im Anschluß an ein Wort von Saint Simon, in die berühmte Parole übersetzen: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen.“]

Die von Koselleck bloßgelegte Ambivalenz der Aufklärung, die proportional zum Erfolg ihrer Entlarvungsarbeit „politisch verblinde“, zeigt vielmehr die Dialektik ihres durchaus politischen Sinnes an: sie will das „politische Element“, hegelisch gesprochen das substantielle Moment der Autorität, in Reflexion, aufheben.

Der kritische Prozeß, den das Bürgertum gegen den absolutistischen Staat angestrengt hat, endet in der Forderung des Kommunistischen Manifestes, daß die politische Gewalt in „öffentliche“ Gewalt zu überführen sei. Mit diesem einen Attribut der Öffentlichkeit zieht das 19. Jahrhundert die Konsequenz aus dem im 18. entstandenen Prinzip. Weil es eine geschichtliche Bewegung antizipiert, ist es zugleich Prinzip einer Geschichtsphilosophie, deren erste Autoren und Adressaten wir, wie Kesting beobachtet, in denselben sociétés de pénsées finden, die die Sphäre der Öffentlichkeit institutionell

begründen. Das politische Motiv einer durch Publizität vermittelten Rationalisierung der Staatstätigkeit ist mit dem geschichtsphilosophischen Motiv einer revolutionär auf ihre natürliche Ordnung zurückgebrachten bürgerlichen Gesellschaft, Kritik ist mit Utopie in ihrem Ursprung eins. Was die feudale Verfassung als naturwüchsig hatte erscheinen lassen, erwies sich nun des Zugriffs der avancierten Bourgoisie nicht nur fähig, sondern mit der kapitalistischen Erweiterung der Tauschverhältnisse auch bedürftig. Eine dem Marktverkehr innewohnende „Rationalität“ schien von den Menschen geradewegs zu verlangen, die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Existenz, und damit den geschichtlichen Prozeß selbst in die Hand zu nehmen. Geschichtsphilosophie, nämlich die Idee der machbaren Geschichte, wird von dieser selbst erst hervorgebracht.

Aus diesem Zusammenhang der sozialen Triebkräfte gelöst, verliert das Verhältnis von Kritik und Krise, wie es Koselleck sich darstellt, über die Fragwürdigkeit der anthropologischen Prämissen hinaus an Glaubwürdigkeit. Gleichwohl hält Hanno Kesting daran fest; er interpretiert es als das von „Geschichtsphilosophie und Weltbürgertum“ (Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1959). Thematisch eine direkte Fortsetzung, weicht Kestings von Kosellecks Untersuchung in den Modalitäten ab. Über weite Strecken informativ referierend, in den Konturen allerdings weniger streng ausgeprägt; ohne wissenschaftlichen Apparat, daher für den Laien zugänglicher; fördert die durchgehaltene Fragestellung dennoch eine ähnliche Fruchtbarkeit, fast eine gleiche Fülle geistesgeschichtlicher Aspekte und politischer Einsichten.

Kesting entdeckt die geschichtliche Pointe jener von Koselleck untersuchten „Geschehenseinheit der Aufklärung“ im gleichsam posthumen Siegeszug der Geschichtsphilosophie: 1917. Global setzt sie sich nämlich erst mit der Russischen Revolution und dem Kriegseintritt Amerikas durch. Im Gegensatz zur bürgerlichen übersetzt freilich die weltbürgerliche Utopie ihre Kritik unmittelbar in die Praxis: „Die Prognostiker verwandeln sich in Planer, und ihre Planungen werden um so unfehlbarer, je mehr sie die Erfüllung ihrer Planziele durchsetzen und erzwingen können“. Während im Osten die leninistische Version des Marxismus aus der Verschmelzung der proletarischen Revolution mit der antikolonialen und nationalen Bewegung der Kolonialvölker ihre Kraft zieht, verarbeitet in Amerika der adventistische Mythos puritanischer Herkunft die Erfahrung des „offenen Westens“ zum Glauben an die Überlegenheit der „Neuen Welt“. Hier bedarf die Praxis von social control und social engineering nicht, wie die im Zeichen von „Einholen und Überholen“ diktatorisch betriebene Industrialisierung des agrarischen Rußlands, der ausdrücklich formulierten und propagandistisch verbreiteten „Geschichtsphilosophie“; der angelsächsische Meliorismus hat sie mehr oder weniger stillschweigend und gemeinplätzig zur Voraussetzung.

Gemeinsam bleibt beiden Weltmächten die geschichtsphilosophische Perspektive überhaupt. Die Positionen der mit 1789 auf den Plan gerufenen europäischen Bürgerkriegs-Parteien werden damit zu Positionen der großen Staaten selber. Wie die geschichtsphilosophische Deutung damals den Klassenkämpfen im Innern diente, so übersetzt sie nun die äußeren Kampfhandlungen ins Bürgerkriegsformat. Kesting demonstriert am Beispiel des zweiten Weltkriegs: „Es zeigt sich, daß die diskriminierende Aufspaltungskraft des amerikanischen Fortschritts- und Sendungsbewußtseins kaum weniger stark ist als die des Bolschewismus, so verschiedenartig beide im übrigen sein mögen. Beide verwandeln den Krieg in einen Kreuzzug und in einen Bürgerkrieg, die Bolschewisten bewußt, die Amerikaner unbewußt. Beide appellieren an das Volk gegen die Regierung, denn beide vertreten die Partei des »Menschen gegen die des ,Unmenschen‘, womit sie, wie aus der Geschichte des europäischen Bürgerkriegs hinlänglich bekannt, die Unterscheidung von Feind und Verbrecher aufheben und die Auseinandersetzung vergiften. Im Westen wie im Osten wird die Geschichtsphilosophie des europäischen Bürgerkrieges aufgegriffen, weitergeführt und in die praktische Politik eingebracht.“

Die Gegenpartei, der Faschismus, wird von Kesting freilich ausgespart. Sie wird nur teichoskopisch vorgeführt, dient sozusagen als die Kulisse, vor der die „antifaschistische Front“ als die eigentliche Aktion des Bürgerkriegs sich deutlich abheben kann. Die Rolle der Alliierten als Bannerträger einer „Geschichtsphilosophie“, die den Gegner im gleichen Maße diabolisch erscheinen läßt, wie sie die eigenen Ziele für humanitäre ausgibt — diese Rolle hätte wohl eine das Konzept störende Rechtfertigung erfahren, wenn nicht Kesting dem „diabolischen Gegner“ selber den Auftritt erspart hätte. So erfährt man nur, daß Faschismus, Nationalsozialismus und Falangismus die mit dem Ost-West-Konflikt etablierte Bürgerkriegssituation um drei Jahrzehnte verzögert haben; daß sie die guten Ansätze einer konservativen Revolution korrumpiert und kompromittiert haben; daß sie mit ihrer Niederlage einer dem europäischen Konservatismus entsprechenden Macht die Grundlage entzogen haben. Diese hätte sonst, nach dem Zerbrechen der „antifaschistischen Illusion“, den offenen Gegensatz zwischen Kapitalismus und Bolschewismus wohltätig temperieren können. Deutschland hat die Chance der „dritten Position“ verspielt, hat sie den Neutralen von Bandung in die Hände gespielt.

Wie man sieht, greift Kesting über Kosellecks Untersuchung nicht nur chronologisch, in Anbetracht des behandelten Zeitraums, sondern auch systematisch hinaus: er geht von der Kritik der Geschichtsphilosophie zu deren Alternative über. Ja, recht betrachtet, dient ihm die Entwicklung der Geschichtsphilosophie über Saint Simon und Comte, Hegel und Marx, über den Historismus und die Imperialismustheorien bis hin zu Jaspers und Toynbee vor allem zur Einführung in die gegenaufklärerischen Thesen selbst. Kesting zeigt den Zusammenhang des katholischen Konservatismus der de Bonald und de Maistre mit der politischen Theologie eines Donoso Cortes, der gegen die Diktatur des Dolches die des Säbels ausrief; sein Erbe hat bekanntlich Carl Schmitt in den Präfaschismus der zwanziger Jahre eingebracht.

Dieser wird unter dem Titel einer Revolution von Rechts, über den sehr nachsichtig dargebotenen Spengler, von Nietzsche hergeleitet; er wird mit einem „eschatologischen Geschichtsdenken“ zusammengebracht, das allein der Utopie wirksamen Widerpart bieten können soll. Solch eschatologisches Denken scheint allerdings als das Gegenüber der Geschichtsphilosophie dieser selbst noch zuzugehören; denn Kesting nennt den Ursprung der Gegenaufklärung bei de Maistre eine Position innerhalb des europäischen Bürgerkrieges; und von deren gegenwärtiger Gestalt verspricht er sich eine dialektische Aufhebung der zur Antithese erstarrten „Geschichtsphilosophien“ in Ost und West — ihrerseits eine geschichtsphilosophische Denkfigur. Diese Ambivalenz fordert um so dringlicher den Hinweis, daß die neue Auffassung („die den ausweglosen Antagonismus der Bürgerkriegsparteien und -parolen überwindet“) heute nach dem Verschleiß der konservativen Revolution durch den Faschismus von Einzelwissenschaftlern vertreten wird — „nicht eigentlich Geschichtsphilosophen, sondern denkenden Spezialisten“.

Das tiefsinnige Attribut des „Denkens“ soll wohl ihre Wissenschaft über die spezialistische Füllung hinaus auf den eschatologischen Rahmen verpflichten. Eschatologie, an deren „Esoterik“ Kesting nicht rühren möchte, sei eine politisch und historisch konzipierteNegation der Aufklärung, die statt der Autonomie des Menschen seine „Ontonomie“ berücksichtigt. Dem Fortschritt, der die Wirklichkeit überspielen will, setze sie ein Bewußtsein der Providenz entgegen, das sich der geschichtlichen Wirklichkeit fügt. Der Allianz einer sogenannten Eschatologie mit dem spezialistischen Wissenschaftsbetrieb ist durch Personalunion die Verbindung mit dem konservativ-revolutionären Denken gesichert: als repräsentativ gelten Carl Schmitt, Hans Freyer und Arnold Gehlen. In ihnen kehrt auf höherer Stufe wieder, wofür Peter F. Druckers „neuer Konservatismus“ stand — die Adoption des Positivismus im Namen einer dezidiert gegenaufklärerischen Tradition. Ihr in der Negation der geschichtsphilosophischen Fragestellung gewonnener Abstand von Philosophie überhaupt erschwert es, die Prämissen der eigenen Kritik noch als philosophische zu deklarieren. Eine politische Anthropologie wird mithin zur indirekten Philosophie der denkenden Spezialisten. Ihr bürdet Kesting vertrauensvoll die Last des Beweises dafür auf, „daß nahezu überall das Gegenteil von dem wahr und richtig ist, weis im Lichte der Geschichtsphilosophie wahr und richtig zu sein scheint“.

Sollte indessen in dem Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Bürgerkrieg nicht dieser das problematischere Element sein? Der Begriff des Bürgerkriegs bezieht seinen polemischen Sinn aus dem Gegenspiel zu einer Herrschaftsordnung, wie sie sich in der europäischen Geschichte zuerst unter dem Absolutismus ausgebildet hat: der Bürgerkrieg stellt das Funktionieren eines in gewisser Weise von der Gesellschaft getrennten, eines „neutralen“ Staatsapparats in Frage. Spätestens seit dem 1. Weltkrieg jedoch zerfällt diese Gestalt des Staates. Im gleichen Maße, wie die Epoche des europäischen Staatensystems zu Ende geht, wird die Kategorie des Bürgerkriegs selber unanwendbar. Sie bestimmt sich negativ an einer Organisation politischer Herrschaft, die in der Person des absoluten Monarchen ihren Idealtypus fand; gleichzeitig unterstellt sie die Wiederherstellung der gestörten Ordnung als wünschenswert. Wir wissen aber, daß unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen eine solche Ordnung nur in Form des totalitären Staates möglich ist. Carl Schmitt, dem wir die maßgebende Formulierung des Bürgerkriegs-Topos verdanken, hat diese Konsequenz auch mit großer Klarheit und selbst Entschiedenheit gezogen. [2. Vgl. die gute Darstellung Jürgen Fijalkowskis in den ersten beiden Abschnitten seines Buches „Die Wendung zum Führerstaat“; Westdeutscher Verlag, Köln-Opladen 1952.]

Mir scheint erwägenswert, ob nicht, wer die geschichtlich überholte Kategorie des Bürgerkriegs dennoch beibehält, sich bereits vor der Analyse zur Therapie, zu dieser Therapie entscheiden muß. Wenn unsere Situation sinnvoll als Zustand eines latenten Weltbürgerkrieges beschrieben werden kann, dann nicht mit der Bedeutting eines Bürgerkriegs im Weltmaßstab, sondern im Sinne eines Krieges zwischen Weltbürgern.

Damit ist allerdings die von der geschichtsphilosophischen Fragestellung antizipierte Einheit der Welt ebenso angenommen wie die Wünschbarkeit einer dauerhaften Friedensordnung. Aber ist denn beides so unrealistisch, wie die „Realisten“ es den Geschichtsphilosophien nachsagen? Der heute sich abzeichnende Pluralismus der Regionen, Nationen und Kulturen zwingt erst recht dazu, die bestehende technische Einheit der Welt und des Menschengeschlechts in der Form verbürgter Gleichberechtigung politisch zu realisieren. Es sei denn, eine Anthropologie wolle der Herrschaft von Eliten und Elitennationen mit dem Argument ihrer naturwüchsigen und unaufhebbaren Überlegenheit das Wort reden. Ebenso scheint uns das strategische Patt der atomaren Waffen dazu zu nötigen, diese technische Garantie des Friedens durch Abrüstungsvereinbarungen und internationale Institutionen politisch zu realisieren. Es sei denn, eine Anthropologie würde der Abschaffung des Krieges mit dem Argument der Naturnotwendigkeit aggressiver Triebstauungen begegnen und Entlastungsräume, womöglich eine Art Naturschutzpark für kriegerische Aktionen, verlangen. Es scheint mir fraglich, ob sich das, was geschichtlich unmöglich ist, vom objektiv Möglichen zuverlässig durch anthropologische Argumente überhaupt wird unterscheiden lassen. Die historisch-soziologischen Argumente halten manches in der Schwebe, was vorschneller Rekurs auf die „Natur“ des Menschen abschneidet.

Gewiß führt ein nach Maßen der geschichtsphilosophischen Deutung unternommener Versuch, dem latenten Bürgerkrieg eine stabile weltbürgerliche Ordnung abzugewinnen, auch zu gefährlichen Fiktionen: Gewiß führt dieser Versuch in die Versuchung, Kriege, die es noch sind, in Polizeimaßnahmen zu verwandeln, Feinde wie Verbrecher zu behandeln. Allein in dem Maße, in dem die Maximen jener Ordnung sich als die geschichtlich fälligen im Bewußtsein der Menschen und in ihren Einrichtungen durchsetzen, hören sie auf, Fiktionen zu sein. Es spricht manches dafür, daß die Idee einer Rationalisierung des „politischen Elements“, daß Machbarkeit der Geschichte wenn nicht der Geschichte selber, so doch der geschichtlichen Prozesse, die uns, wenn wir sie nicht meistern, auf diese oder jene Weise aufreiben würden — von der Geschichte selbst in ihrer drohendsten Gestalt nicht als lebensfremde Utopie vorgegaukelt, sondern als eine Praxis des Überlebens einzig offengelassen wird — mögliche Antwort auf eine tatsächliche Herausforderung.

„Von Freiheit in einem substantiellen Sinne kann im Osten kaum, im Westen kaum noch die Rede sein. Die offen terroristisch erzwungene Konsumaskese des Ostens vernichtet die Freiheit ebenso wie der versteckt terroristisch durchgesetzte Konsumzwang des Westens. Konformismus hüben wie drüben. Das ist der unübersehbare Sachverhalt, dessen Nuancen zwar für die hier und dort lebenden Menschen von außerordentlicher Bedeutung sind, die indessen als weltgeschichtliche Alternative, wie die Geschichtsphilosophie behauptet, schwerlich in Frage kommen.“ Wenn sich, wofür einige, wenn schon keine eindeutigen, Anzeichen vorliegen, die gesellschaftlichen Entwicklungen in Ost und West auf der mittleren Ebene jener von Tocqueville prognostizierten „milden Knechtschaft“ wirklich einspielen sollten, hätte gerade eine dritte Position, die den Weltbürgerkrieg überwinden will, die „weltgeschichtliche Alternative“, wie sie hier sowohl als dort intendiert wird, ernstzunehmen. Kesting hingegen bestreitet sie als solche, sieht das Problem „jedenfalls nicht im Gegensatz von Freiheit und Tyrannei. . .“ Immerhin sind wir dankbar, von so gescheiten Autoren zu erfahren, wie Carl Schmitt, ein so denkender Spezialist, die Lage heute beurteilt.

 


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