Internetkolumne – Abschied vom Besten

von Kathrin Passig

»Das meiste, was auf Twitter kursiert, ist belangloses Geschnatter von zweifelhaftem Erkenntniswert«, konstatierte ein Spiegel-Online-Journalist 2009 im Gespräch mit Twitter-Gründer Evan Williams. Dass das richtig, aber nicht weiter erkenntnisbefördernd ist, hatte der Science-Fiction-Autor Theodore Sturgeon schon 1958 erkannt: »Neunzig Prozent von allem sind Unfug«, lautet das nach ihm benannte »Sturgeon’s Law«. Hier aber geht das Argument zweifach ins Leere, denn über die Qualität von Twitter lässt sich so wenig Allgemeingültiges aussagen wie über den Inhalt von Bücherregalen. Twitter existiert in so vielen Varianten, wie esNutzer hat, eine gemeinsame Basis gibt es nicht. Wer bei Twitter belangloses Geschnatter liest, der hat es sich so ausgesucht.

Twitter wird im Folgenden noch öfter als Beispiel herhalten müssen, weil es wegen seines geringen Funktionsumfangs ein Mikrolabor darstellt, in dem man verschiedene Phänomene in Reinkultur beobachten kann. Kaum ein Onlineangebot ist so konsequent und vollständig den persönlichen Interessen angepasst. Dass eine der Methoden, die verwirrende Fülle des Internets in den Griff zu bekommen, das individuelle Ausblenden von Störfaktoren ist, zeichnet sich schon seit einigen Jahren ab. Seit Dezember 2009 erhält jeder Nutzer der Google-Suche Suchergebnisse auf der Basis seiner vergangenen Suchanfragen und − unter bestimmten Voraussetzungen − seiner besuchten Seiten. Es gibt keine »normalen« Google-Ergebnisse mehr, und wer seine eigene Firmenwebsite auf Platz eins der Suche vorfindet, kann nicht länger davon ausgehen, dass das auch für andere so ist. In naher Zukunft wird »das« Internet noch weniger existieren, als das jetzt schon der Fall ist. Was bei Google automatisch passiert, wird bei Twitter von Hand justiert, aber das Ergebnis ist in beiden Fällen dasselbe: Der Nutzer bekommt das zu sehen, was er sehen will, der Rest bleibt ihm erspart.
Weil diese manuelle Justierung selten so einfach wie bei Twitter ist, kommen in der Regel automatisierte Lösungen zum Einsatz. Die ersten solchen Techniken zum Herausfiltern der für einen bestimmten Nutzer interessanten Elemente tauchen im Internet ab den frühen neunziger Jahren auf. Es gibt diverse Möglichkeiten, passende Empfehlungen zu liefern. Google wertet das bisher beobachtete Nutzerverhalten aus und generiert daraus Vorhersagen. Beim »kollaborativen Filtern« versucht man, Nutzer mit ähnlichen Interessen zu identifizieren: Wenn jemand neun Bücher, Filme oder Bands gut bewertet hat, macht das Empfehlungssystem andere Nutzer mit denselben neun Vorlieben ausfindig und versucht, eine zehnte Gemeinsamkeit zu bestimmen. Dieser zehnte Titel wird dem zu beratenden Kunden wahrscheinlich auch zusagen.
Kollaborative Filterung steckt hinter dem lernenden Internetradio last.fm, den »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch«-Empfehlungen bei Amazon und dem deutschsprachigen Filmempfehlungsdienst moviepilot.de. Zum Teil müssen die Nutzer dabei aktiv Bewertungen abgeben, wie ihnen etwa ein bestimmter Film gefallen hat, zum Teil lassen sich die zugrundeliegenden Daten direkt aus dem Verhalten der Nutzer − bei last.fm etwa aus ihren Musikhörgewohnheiten − auslesen. Eine dritte Möglichkeit ist der Vergleich von Produktähnlichkeiten, wie ihn das Onlineradio Pandora oder der Filmempfehlungsdienst jinni.com betreiben. Bei Pandora analysieren Mitarbeiter Musikstücke und klassifizieren sie im Rahmen des »Music Genome Project« von Hand, bei jinni.com geschieht dasselbe automatisch anhand von Rezensionen. Den so zugewiesenen Attributen lassen sich dann wiederum Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Stücken entnehmen. Die Zuverlässigkeit der Empfehlungen steigt, wenn mehrere Verfahren kombiniert werden.
Hinzu kommt ein anschwellender Strom von Empfehlungen aus dem privaten Umfeld, die in letzter Zeit hauptsächlich über soziale Netzwerke wie Facebook verbreitet werden. Es ist vor allem dieses Phänomen, das zu der derzeit populären Vorhersage geführt hat, dass Empfehlungen mittelfristig die Suche als zentrales Mittel zur Durchforstung der Welt und Bändigung der Informationsflut ablösen werden. Allerdings bringt diese Variante ein Problem mit sich, dem sich bislang wenige Anbieter stellen: Die Tatsache, dass zwei Menschen befreundet sind, sagt wenig über die Übereinstimmung ihrer Interessen aus. Aus gutem Grund unterscheidet das Onlineradio last.fm zwischen »Freunden« und »Nachbarn« − die Freunde dienen dem Sozialleben, die Nachbarn der Erzeugung von Musikempfehlungen. Bei Facebook hingegen geht man davon aus, dass jeder dieselben Links interessant findet wie die Menschen, mi denen er befreundet ist.
Reed Hastings, Gründer und CEO des Online-DVD-Verleihs Netflix, gibt in einer New-York-Times-Reportage aus dem Jahr 2008 zu Protokoll, dassNetflix zwar nicht wenige demographische Daten seiner Nutzer erhebt, aber − so zumindest der Stand 2008 − beim Erzeugen von Empfehlungen kaum von ihnen Gebrauch macht. Was der Anbieter über die Filmvorlieben seiner Kunden hinaus von ihnen weiß, erweist sich, so Hastings, als wenig nützlich bei der Vorhersage ihrer Ansichten über Filme. Und obwohl die Netflix-Nutzer die Filmempfehlungen ihrer Freunde angezeigt bekommen, geht nur ein sehr kleiner Teil der Ausleihvorgänge auf Tipps aus dem Freundeskreis zurück. Anders als man mit fünfzehn zu vermuten geneigt war, ist persönliche Sympathie für die Qualität von Buch- oder Musikempfehlungen nicht nötig, und in der Praxis sind die Überschneidungen zwischen Freundeskreis und Geschmacksnachbarschaft gering. Es hilft, wenn Anbieter die Frage nach der Freundschaft von anderen Aspekten entkoppeln.
Noch vor kurzem wurde die Aufgabe der Vorsortierung eines unüberschaubaren kulturellen Angebots von Buchhändlern, Bibliothekaren, Rezensenten oder Plattenverkäufern übernommen, die sie mehr schlecht als recht erfüllten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Empfehlungen eines einzelnen Menschen einem beliebigen anderen Menschen weiterhelfen, ist naturgemäß gering. Wer einen Händler oder Rezensenten fand, dessen Ansichten sich mit den eigenen deckten, hatte Glück, der Rest derWelt blieb auf Zufallsfunde angewiesen. Dass die neuen Empfehlungstechniken zur Lösung dieses Problems beitragen, erfreut nicht nur die Nutzer, es lohnt sich auch für die Anbieter. Amazon erzielt zwanzig bis dreißig Prozent seiner Umsätze mit Verkäufen, die auf individuelle Produktempfehlungen zurückgehen.

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