Merkur, Nr. 376, September 1979

Alter ohne Revolte. Max Frischs neue Erzählung

von Rainald Maria Goetz

Ein junger Mann liest das Buch, das ein alternder Schriftsteller über einen alten Mann geschrieben hat: Max Frischs neue Erzählung, »Der Mensch erscheint im Holozän«[1. Max Frisch: »Der Mensch erscheint im Holozän«. Frankfurt: Suhrkamp 1979.]. Ich bin der Leser, mit meinen 25 Jahren nicht einmal sicher, ob ich bereits zu den Erwachsenen gehöre.

Wenn ich, wie an Sonntagen üblich, ins Haus der Eltern komme, sitzt auf dem Diwan im Eßzimmer eine 92jährige Frau: die Mutter des Vaters, fast blind, fast taub, eine körperliche Ruine. Von außen dringt nicht mehr viel ein, und im Kopf gehen die Gedanken, sich drehende, wiederkehrende Bewegungen. Immer dieselben Überlegungen, die sie äußert; das Grübeln über das gefährdete Glück der Tochter im fernen Sizilien, über zwei Söhne in Amerika, über die vielen Enkel. Daneben die vertrauten Glücksmomente, das gleichbleibende Ritual der Tage: nachmittags hört sie das Wunschkonzert; abends das Gebet von Radio Vatikan, Ave Maria gratia plena, die ruhige Bewegung ihrer Finger in den Perlen des Rosenkranzes. Mein Unwille gehört hierher über die Einfalt der alten Frau, die Beschränkung auf Sorgen, Musik und Religion. In den Ärger mischt sich Betroffenheit und Entsetzen: an meiner Großmutter werde ich nicht lernen, mir das Alter vorzustellen. Ich habe mich nach meinen Vorstellungen gefragt. Dabei bemerkte ich, wie sehr es ein Blick von außen ist, Vermutungen über einen noch nie betretenen Raum.

Max Frischs neue Erzählung lesend, bin ich nun in den Raum der Altersexistenz eingetreten; sie gibt eine Innenansicht, so erschütternd wie von meinen trübsten Erwartungen vorweggenommen. Der Schrecken wächst langsam, über fein dosierte Erkenntnismomente, doch unausweichlich. Und mir schien, so und nicht anders muß es sein, so wird es sein: Das Alter ist eine Naturkatastrophe. Die Katastrophe des Alterns kommt über den Menschen wie Naturumwälzungen sich vollziehen: schleichend, unaufhaltsam, vernichtend. Alter als Katastrophe, die Alterskatastrophe, sagt Frisch.

Die Erzählung hat den Charakter einer Parabel: In einem paradiesisch unberührten Tessiner Tal bewohnt Herr Geiser allein ein Haus am Rand einer kleineren Ortschaft. Er ist 73 Jahre alt, Witwer. Da es seit einigen Tagen nahezu unaufhörlich regnet, ist Herr Geiser beunruhigt. Seine Gedanken und die Notizen, die er sich macht, kreisen um die Möglichkeit einer von diesem Regen ausgelösten Naturkatastrophe. Aus den wenigen Büchern, die Geiser liest, schneidet er mit einer Schere Zettel aus und heftet sie an die Wand. Durch den Einbruch einer alten Stützmauer wird der Zugang zum Tal blockiert, auch fällt einige Tage der Strom aus. Die bedrohlichen Indizien mehren sich, und Geiser beschließt, ohne sich über seine Gründe genau Rechenschaft zu geben, das Tal zu verlassen. Mit dem Nötigsten bricht er auf, überquert in einem beschwerlichen und gefährlichen Fußmarsch einen Paß und kehrt nach der Hälfte des Abstieges wieder um, ebenso unvermittelt wie er das Unternehmen begonnen hatte. Diese Gewalt-Bergtour hat den Dreiundsiebzigjährigen überanstrengt; am nächsten Tag erleidet Herr Geiser einen leichteren Schlaganfall. Den Besuch der Tochter bald darauf erlebt er verwirrt und ungenau; es bleibt offen, ob er stirbt. Der tagelange Regen hat sich jetzt gelegt, über dem Tal von Herrn Geiser ein blauer Himmel, wie eh und je, und Sommerhitze.

Erkennt man es, das Tessiner Tal? Es ist Max Frischs eigenes Versteck vor der Welt, oft genug von ihm beschrieben. Und das Alter: in ein paar Jahren ist auch Frisch, eben noch ein Sechziger, ein Früher Siebziger wie Herr Geiser.

Vielleicht habe ich zuviel Zeit auf diesen Fragenkomplex verwendet: das Verhältnis zwischen Frisch und Geiser. Ich stöberte in den früheren Büchern und entdeckte zahlreiche Querverweise. Schließlich wurde es ein allzu engmaschiges Netz, unter dem die Erzählung selbst zu ersticken drohte.

Die äußere Handlung habe ich also erzählt. Doch damit ist noch nicht viel über Frischs Geschichte gesagt. Die entwickelt sich in Herrn Geisers Kopf, und erst im Nachhinein ist ein Handlungsgerippe wie das eben skizzierte rekonstruierbar. Frisch hat sich Geiser in den Kopf gesetzt, ja, das heißt beides: Geiser in Frischs Kopf und, vor allem, Frisch in Geisers Kopf; da sitzen auch die Worte, mithin der Leser.

Fragen der Perspektive, aus der erzählt wird, sind das, Probleme der Erzähler-Position. Hier entscheidet sich, ob man Frischs neue Erzählung, wie ich, für ein literarisches Kunstwerk hält oder für ein Bekenntnis. Gegeben ist: eine karge, fast simple Sprache, kurze Sätze, Naturbeobachtung, Tiefsinn, Einfalt. Daß Frisch langsam senil werde, beweise die neue Erzählung, meinte ein Freund, ein peinliches, sehr schlechtes Buch. Doch ich glaube im Gegenteil: Selten hat Frisch eine so trickreiche und vielschichtige Erzählerposition entwickelt. Das in der letzten Erzählung »Montauk« (Suhrkamp 1975) erprobte Schwanken zwischen der »Er«- und »Ich«-Form, das spielerisch und bedeutungsvoll zugleich war, ist hier aufgehoben. Frisch hat sich für die personale »Er«-Form entschieden, offenbar nach ausgiebigem Experimentieren: »Eine literarische Erzählung, die im Tessin spielt, ist zum vierten Mal mißraten; die Erzähler-Position überzeugt nicht.«, heißt es in »Montauk«. Den Spielregeln seiner schließlich gewählten Erzählform gehorchend, kann Frisch also nur simple Sätze und einfältige Philosopheme notieren, denn das ist Geisers Sprache.

 

 

Hinter der Sprache gibt es die unausgesprochenen Geiserschen Gedanken, vielfach als Voraussetzung spürbar, jedoch nie ausgeführt. Abgesehen von der zentralen Stelle, wo Geiser die Umkehr von seiner Wanderung beschließt; und hier wird zugleich auch die Erzähler- Position enthüllt: »Herr Geiser (ist) noch eine Weile lang sitzen geblieben, ohne sich zu sagen, was er denkt, was in seinem Kopf beschlossen wird.« Frisch hat das Selbstgespräch eines alten Mannes erfunden und für sich die Rolle des Protokollanten, der kommentarlos notiert, was er hört. Ist dies das Kunst-Geheimnis der Erzählung? Mir scheint es so.

Trotz der erwähnten Parallelen in Szenerie und Alter: Geiser ist nicht Frisch, natürlich nicht. Man hört sogar, Max Frisch habe einen konkreten Fall vor Augen gehabt, ein Haus voller Zettel, ein verstorbener Witwer. Doch einerlei, ob realistische Vorlage oder Fiktion; Frisch redet von einem Fremden.

Die eine Frage habe ich also beantwortet: literarisch glaubhaft erscheinen mir Frischs Mitteilungen über das Alter in hohem Maß. Doch was erfahre ich über das Alter?

Herr Geiser ist ein Clown, ein Charlie Rivel vielleicht. Ich stelle mir den Film vor, zu dem Frischs Erzählung das Drehbuch wäre: ich schaue Herrn Geiser zu, muß schmunzeln und werde im selben Moment traurig. Das ganz undramatische alltägliche Mißgeschick, die wiederholten Versuche, das Scheitern, Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit, aber aufgegeben wird nicht; die Schrullen, Obsessionen und Tics, wirkliches Unglück und tiefsinnige Fragen, alles wird mit einer gleichbleibenden und damit die Unterschiede einebnenden Genauigkeit und Beharrlichkeit registriert. Clowns-Melancholie also, klagelos, und Tiefsinn, der sich nicht wichtig nimmt.

Alter als Prozeß: Die Symptome einer fortschreitenden Altersatrophie des Hirns steigern sich im Lauf der Erzählung. Was zunächst nur kleine Eigenheiten und Merkwürdigkeiten sind, wird zur handfesten Altersnarrheit und Verwirrung. Nichts davon wird behauptet, es wird am einzelnen vorgeführt, mit einer zwingenden Konsequenz, die vielleicht der erschütterndste Aspekt dieser Erzählung ist. Das Erschrecken wächst mit der untertreibenden Beiläufigkeit, in der Frisch von den unerwarteten Einbrüchen des Unsinns in Geisers Handeln und Denken spricht: So der Gedanke an Selbstmord, um die eigenen Schritte nicht mehr hören zu müssen; oder Geisers jähes Gefühl vor dem Spiegel, er sehe aus wie ein Lurch. Oder wenn es über die Katze, die der Leser als Haustier Geisers bereits kennt, unvermittelt heißt: »Seit gestern, als er die Katze im Kamin gebraten und dann nicht hat verspeisen können, mag Herr Geiser nicht einmal die Suppe essen, weil Speck darin ist.«

Sind das Bekenntnisse? Hat Max Frisch Angst vor dem Alter? Eine rhetorische Frage. »Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses«, und etwas weiter, »Offenbar fallen Hirnzellen aus.« Sätze, hinter deren trockener Sachlichkeit eine bewegungslose Panik steckt; Frischs Panik, und er tarnt sie hier mit Resignation und Melancholie. Teile aus dem »Tagebuch, 1966—1971« (Suhrkamp 1972), »Montauk«, die Erzählung von einer Altersliebe, und erst recht »Tryptichon« (Suhrkamp 1978), — die Themen Alter und Tod beschäftigen den alternden Autor seit Jahren. In Geiser, als Geiser geht Frisch diese Fragen, so scheint mir, endgültig, also tödlich ab.

Alter ist auch: Flucht vor dem Alter. So versucht Geiser dem Unausweichlichen zu entrinnen. Seine Zettel-Sammelei, die zur Manie wird, ist ein letzter intellektueller Kraftakt, dem der körperliche Kraftakt jener Wanderung entspricht, durch die er dem Unwetter entfliehen möchte, zu Fuß über einen Gebirgspaß; beides gleichermaßen unsinnig und vergeblich; beides scheitert.

Geiser will mit all den Bücherschnipseln, in denen Welt und Natur erklärt werden, ja nicht nur sein nachlassendes Gedächtnis testen und trainieren. Er will sich, grundsätzlicher betrachtet, der Natur begrifflich bemächtigen; will dem, was er erlebt und beobachtet, die andere, die zweite Wirklichkeit geben, die der Sprache. Die Welt soll, über die Worte, in den Kopf, ein letztes Mal, — vergeblich. Geiser versteht das, am Schluß. Im letzten Bild — die Tochter ist zu Besuch, öffnet die Fenster — fliegen die Zettel von der Wand auf den Teppich, »ein Wirrwarr, das keinen Sinn gibt«. Kein Aufbegehren Geisers, sondern eine entscheidende Einsicht.

Seine letzten Sätze, die Frisch notiert, sind ein Resümee des Rückzugs; Herrn Geisers Flucht ist mißlungen, er ist fertig, zu sterben: »Die Ameisen, die Herr Geiser neulich unter einer tropfenden Tanne beobachtet hat, legen keinen Wert darauf, daß man Bescheid weiß über sie, so wenig wie die Saurier, die ausgestorben sind, bevor ein Mensch sie gesehen hat. Alle die Zettel, ob an der Wand oder auf dem Teppich, können verschwinden. Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht.« Die Natur ist nicht nur uneinholbar. Umgekehrt, sie holt den Menschen ein. Und das Subjekt, das aus ihr hervorgegangen ist, zieht sich am Ende wieder in sie zurück. Anders als der Titel zunächst zu signalisieren scheint, beschreibt Frisch nicht, wie der Mensch im Holozän erscheint, sondern wie er in ihm verschwindet.

Ähnlich verhält es sich mit der Zeitlichkeit, um die Geisers Gedanken beständig kreisen. Was ist die Zeit des Lebens gegen die Zeit der Erde, des Kosmos? Kann das ein Trost sein für den alten Menschen, daß er sich in der Unendlichkeit der Zeit verschwinden sieht? Ich weiß es nicht.

Zwischen der Altersbefindlichkeit Geisers und der Naturkatastrophe, die er befürchtet, besteht ein enger Zusammenhang. Genaugenommen stirbt Geiser sogar an dem Unwetter; tödliches Beispiel einer »self-fulfilling-prophecy«. Alles spricht für etwas Schreckliches, und seismographisch genau registriert Herr Geiser bedrohliche Einzelheiten: Der andauernde Regen, das Gurgeln des Wassers ums Haus und den Hang hinunter, der Einsturz einer kleinen Trockenmauer im Garten, »Geröll im Salat«; Blitz und Donner, von dem man, in einer schlaflosen Nacht, viele Arten unterscheiden kann. Risse durchs Gelände und durch Felsen; so fangen Erdrutsche an. Und Geiser muß hinaus, denn mit dem Feldstecher hat er einen handbreiten »Riß durch das ganze Gelände« entdeckt, ach nein, nur die Spur der Katze im Gras. Auch der Riß im Felsen ist harmlos, ein »Riß aus grauer Vorzeit«, aber nicht weniger als eine Stunde sucht Geiser den Fels nach einem neuen Spalt ab.

Es ist ein schweres, doch sehr normales Sommerunwetter, das sich einige Tage hinzieht. Aber Geiser projiziert seine eigenen Ängste auf die kaum erschütterte Ruhe und Gleichmäßigkeit der Natur: Die Angst vor dem eigenen Tod als Angst vor dem Untergang der Welt. Zugleich liegt hierin etwas Beruhigendes. Denn mit dem Ende der eigenen Existenz endet, so meint Geiser, alle Existenz. Man sieht: Herrn Geisers Alter ist ein Katastrophenalter.

Längst bevor ich wußte, wie eingehend mich Frischs Buch noch beschäftigen würde, bin ich dem Herrn Geiser begegnet. Es war eine Lesung in der Münchener Universität, vergangenen Herbst, bei der Max Frisch das Kernstück der Geschichte, die Wanderung, vortrug. Der Tumult vorher, bis einige hundert Leute ohne Eintrittskarte unter »Tür-auf«-Rufen die Aula gestürmt und die Gänge besetzt hatten, dieser Tumult und dann die schier unglaubliche Ruhe, als Frisch las: Von dem alten Mann, der eine verrückte Wanderung unternimmt, die merkwürdige Eindringlichkeit seiner Beobachtungen, seine Skurrilität und der unerschütterliche Gleichmut, als es zwischen Nacht und Regen und Wurzeln kaum mehr ein Vorwärtskommen gibt.

Dann las ich die ganze Erzählung. Max Frisch hat mir den Raum der Altersexistenz von innen gezeigt: Resignation, fast nichts von Revolte. Schonungslos wird das Grauen des Alters enthüllt; der erschütternde Reduktionsprozeß bis hin zu jener stillen Geduld im Warten auf den Tod.


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