Heft 892, September 2023

Ästhetikkolumne

Museen und Opioide von Jan von Brevern

Museen und Opioide

All the Beauty and the Bloodshed, der Dokumentarfilm der amerikanischen Regisseurin Laura Poitras über die Künstlerin und Aktivistin Nan Goldin von 2022, erzählt zwei Geschichten über die Kunst. In der ersten Geschichte ist Kunst ein Instrument der Befreiung – der individuellen und der politischen Emanzipation. In der zweiten ist Kunst ein Instrument des »reputation laundering« und der Verschleierung von Verbrechen als Philanthropie. Es ist eine Schwäche des Films und zugleich seine größte Stärke, dass er den Widerspruch zwischen beiden Geschichten nicht aufzulösen vermag.

Ich sah den Film an einem warmen Frühsommerabend in einem Weimarer Programmkino, das in einem umfunktionierten Straßenbahndepot aus der Jahrhundertwende untergebracht ist. Auf der nächtlichen Fahrradfahrt nach Hause, ja noch am nächsten Morgen nach dem Aufwachen blieb mir Nan Goldins Stimme im Ohr. Neben ihren berührenden Fotografien ist es vor allem ihre Erzählstimme, die den biografischen Teil des Films trägt. Goldin, die in einem Vorort von Boston in komplizierten Familienverhältnissen aufgewachsen ist und schon mit vierzehn Jahren ihr Elternhaus verlassen hat, spricht langsam, eindringlich, wehmütig.

In den 1970er Jahren wird sie Teil einer queeren Boheme, zuerst in Boston, dann, nach einem Kunststudium, in New York. In der Bowery lebt sie mit Künstlerinnen, Musikern, Drag Queens, Prostituierten, Schauspielerinnen. Sie beginnt, die Menschen um sich herum und sich selbst zu fotografieren. The Ballad of Sexual Dependency, eine Serie von etwa siebenhundert Diapositiven aus den Jahren 1979 bis 1986, die sie als Diashow in immer neuer Abfolge zeigt und mit der sie später berühmt wird, zieht ihre Kraft aus der völligen Distanzlosigkeit der Aufnahmen.

Solche Fotos hatte man noch nicht gesehen: roh, frontal geblitzt, intim und sehr persönlich. Entsprechend ablehnend reagiert die Kunstwelt zunächst. Heute ist die von ihr geprägte Bildsprache nicht nur in der Kunst-, sondern auch in der Modewelt zu einem dominanten Stil geworden. Die Fotos handeln von Sex und Freundschaft, von ausgelassenen Partys und Einsamkeit, von Gewalt, Drogensucht – und von Aids. Viele von Goldins Freunden starben in den achtziger und neunziger Jahren an der Krankheit.

Im November 1989 kuratierte sie in New York die Show Witnesses: Against Our Vanishing – zum ersten Mal war Aids das Thema einer Kunstausstellung, und die Reaktionen waren heftig. Die nationale Kunstförderung NEA zog ihre Finanzierungszusage zurück, weil die Ausstellung »zu großen Teilen eher politisch als künstlerisch« sei. Die klare Trennbarkeit von Kunst und Politik, die damit vorausgesetzt wurde, klingt heute seltsam treuherzig, unterstreicht aber noch einmal, dass von Kunst erst seit relativ kurzer Zeit wieder erwartet wird, politisch zu sein. Rückblickend, so wird im Film deutlich, tat die NEA der Ausstellung natürlich einen großen Gefallen: Witnesses war in den Schlagzeilen und trug dazu bei, dass die Aids-Krise ins öffentliche Bewusstsein rückte.

Diese erste Geschichte, die der Film erzählt, ist zutiefst berührend – und sehr konventionell. Das ist keineswegs abwertend gemeint. Dem Film gelingt es, den üblichen Fallen des Kunst- und Künstlerfilms aus dem Weg zu gehen, niemand redet hier die üblichen abgedroschenen Kunstphrasen – man schaue zum Vergleich die sich aufklärerisch gebende, aber durch und durch servile Arte-Dokumentation Ist das Kunst? aus dem Jahr 2022.

Warum ist All the Beauty and the Bloodshed dann trotzdem konventionell? Weil eben doch genau die Topoi aufgerufen werden, die sich seit dem 19. Jahrhundert in Künstlerbiografien etabliert haben: Die Künstlerin als gesellschaftliche Außenseiterin, die ein radikal antibürgerliches Leben lebt. Die Kunst, die es der schüchternen jungen Frau (»I was shy beyond social phobia – crippling shyness«, berichtet sie im Film) erlaubt, aus sich herauszutreten, sich auszudrücken – und sich so aus der Enge ihrer Vorstadtherkunft zu befreien. Eine neue Bildsprache, die vom Kunstestablishment zunächst abgelehnt wird, um dann als Avantgarde gefeiert zu werden. All das sind klassische Bausteine der Kunstbiografik, tausendfach erzählt und tradiert (mit dem kleinen, aber nicht unwesentlichen Unterschied vielleicht, dass sie in der Geschichte der Kunst zumeist männlichen Künstlern zugeschrieben wurden).

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