Heft 864, Mai 2021

Architekturkolumne

Bedarf die Paulskirche einer erinnerungspolitischen Revision? von Philipp Oswalt

Bedarf die Paulskirche einer erinnerungspolitischen Revision?

In der Wiederherstellung und Neugestaltung der Paulskirche in Frankfurt / Main in den Jahren 1946 bis 1948 artikulierte sich erstmals nach Kriegsende baulich der demokratische Aufbruchswille. Dem Aufruf der Stadt, die Kirche zum hundertjährigen Jubiläum der Nationalversammlung von 1848 als Haus aller Deutschen »im Stein wie Geiste« gemeinsam wiederaufzubauen, folgten trotz großer Not Hunderte Städte, Vereine, Unternehmen und Institutionen aus ganz Deutschland – Ost wie West – und spendeten Material und Geld.

Was damals geschaffen wurde, ist heute zu einem Stein des Anstoßes geworden. Es fehle die Aura, befanden jüngst die vom Bundespräsidenten bestellten Experten. In seiner radikalen Bußhaltung sei der Bau ein erinnerungspolitisches Desaster, bar jeder Erhabenheit und zugleich ohne »Beipackzettel« unverständlich.1 »Ein tiefer Bruch mit der deutschen Geschichte ist hier markiert worden«, dekretierte der Historiker Herfried Münkler.2 Ganz ähnlich äußerte sich die Kulturstaatsministerin, für die die Paulskirche ein Beispiel für das eingespielte erinnerungskulturelle Unvermögen darstellt, »freudigen und hoffnungsvollen, im positiven Sinne prägenden historischen Ereignissen in Deutschland ein Denkmal zu setzen«.3 Schon drei Jahre zuvor hatte der Zeit-Autor Benedikt Erenz über die »Buß- und Reue-Architektur« der Paulskirche geklagt, der er »Sakro-Existenzialismus«4 und »sauren Sakrokitsch«5 vorwarf.

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