Aufklärung und Kapitalismus (III)
Improvements /Verbesserungen von Heinrich Bosse»Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Solche Sätze wirft Kant mir zu, mir, dem einzelnen Leser, wenn ich wissen will, was Aufklärung ist. Und wenn ich weiter wissen will, wie man das macht, so gibt er mir drei Beispiele. Dem Offizier kann es nicht verwehrt werden, über die Fehler im Kriegsdienst Anmerkungen zu machen und diese zu publizieren. Auch der Bürger handelt seiner Bürgerpflicht nicht entgegen, wenn er seine Gedanken über unschickliche oder ungerechte Steuern öffentlich äußert. Der Geistliche ist »als Gelehrter« geradezu verpflichtet, die von ihm bemerkten Fehler sowie Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. Diese drei Vertreter der ständischen Gesellschaft – des Wehrstands (Militär, Adel, Politiker), des Nährstands (Bürger und Bauern), des Lehrstands (Akademiker) – zeigen, dass sie selbst denken, indem sie konkrete Kritik an den Dingen üben, die sie angehen, und vielleicht sogar Verbesserungsvorschläge machen, wenigstens der Geistliche. Wenn man Kants Aufsatz zu Ende liest, so lobt er seinen König lebhaft dafür, dass er seine Untertanen 1784 aufforderte, den Entwurf des Preußischen Allgemeinen Landrechts zu kritisieren und »ihre Gedanken über eine bessere Abfassung« öffentlich vorzulegen.
Selbst Kant also, der Champion der Kritik, kann Kritik mit Verbesserungsvorschlägen verbinden. Tatsächlich setzt eine Verbesserung notwendig voraus, dass etwas noch nicht so gut ist, wie es sein könnte. Ohne Kritik keine Verbesserung. Aber der Satz lässt sich nicht umkehren. Man kann kritisieren, ohne zu verbessern. Der Rezensent, sagt Lessing, braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt. Insofern spielt es eine Rolle, ob wir beim Umgang mit der Aufklärung eher die Kritik in den Vordergrund stellen oder aber die Verbesserung. Ich möchte dafür plädieren, entschieden von der Verbesserung auszugehen. Solch eine neue Gewichtung könnte die Aufklärung besser als bisher (ja, es geht um Verbesserungen) mit der Geschichte der Öffentlichkeit in Beziehung setzen. Auch mit der Geschichte der Wirtschaft, also unvermeidlich mit Kolonialismus und Kapitalismus. Dabei stütze ich mich unter anderem auf Paul Slacks anregende Arbeit The Invention of Improvement (2015).
Was die Öffentlichkeit betrifft, so lautet die Frage: An wen sind die Verbesserungsvorschläge gerichtet? Wenn man Latein schreibt, dann vielleicht an alle, so wie des Amos Comenius Pansophia oder allumfassende Ratschläge für die Verbesserung der Menschheit (De rerum humanarum emendatione consultatio catholica, 1657ff.) an alle Fürsten dieser Welt gerichtet ist. Aber wer in der Landessprache schreibt, meint ein konkretes Gemeinwesen. An erster Stelle, daran ist wohl nicht zu zweifeln, stehen die Fürsten und ihre politischen Ratgeber, alle politici. So widmet Antoine de Montchrétien seinen Traicté de l’oeconomie politique (1615) ausdrücklich Louis XIII., dem minderjährigen König von Frankreich. Wie alle anderen, die »zu Eurem Ruhm und zur Vergrößerung ihres Vaterlandes« (à vostre gloire et à l’augmentation de leur Patrie) arbeiten, wie alle offiziellen Ratgeber und Räte also, möchte auch dieser Autor die Wirtschaftspolitik Frankreichs verbessern helfen. Das dient der »Augmentation«, jener schwer zu übersetzenden Mehrung (Vergrößerung, Anreicherung), welche recht eigentlich den Machtzuwachs eines Staates meint.
Genau entgegengesetzt ist die Botschaft, die sich an den einzelnen Leser oder Privatmann richtet, er möge seinen eigenen Vernunftgebrauch verbessern, wie es Christian Thomasius in seiner Ausübung der Vernunftlehre (1691) vorgemacht und Kant in seinem berühmten Aufsatz von 1784 nachgemacht hat. Texte dieser Art dienen, genau genommen, der individuellen Instruktion, indem sie sich dagegen aussprechen, das eigene Denken fremden Instruktionen zu unterwerfen.
Es müsste jedoch noch ein Drittes geben, und tatsächlich, das ist die Allgemeinheit der Politiker und Privatleute zusammen. Für diese ständeübergreifende Allgemeinheit – die wir heute »Gesellschaft« nennen würden – bietet sich in der Frühen Neuzeit der Begriff der Nation an. Dabei handelt es sich weniger um eine Abstammungsgemeinschaft als vielmehr um ein gemeinsames Wirtschaftssubjekt. Es ist die Nation, die nationale Handelsüberschüsse oder -defizite hat, weder der Fürst noch der Privatmann haben sie. Und diese Überschüsse oder Defizite werden öffentlich beobachtet, berechnet und der Verbesserung anheimgestellt. Auch die Allgemeinheit sollte im Rahmen der politischen Ökonomie die Verhältnisse, welcher Art auch immer, verbessern. Wobei materielle oder wirtschaftliche Verbesserungen eben der Allgemeinheit zugute kämen. Das wäre das »Improvement«, neben der Augmentation und der paradoxen Instruktion die dritte der drei Beratungsstrategien, die sich um 1700 zur Aufklärung bündeln. Eine für die politici, eine für die privati, eine für beide zusammen.
Vor allem England wird seit den wilden Jahren des Bürgerkriegs und der Republik (1642–1660) mit allen nur denkbaren Vorschlägen für Erfindungen und Verbesserungen (inventions & improvements) überschwemmt, wobei im englischen Begriff des »Improvement« stets die ökonomische Dimension mitzudenken ist. So gelten Andrew Yarrantons Verbesserungsvorschläge in England’s Improvement by Sea and Land (1677) der Rivalität mit den Holländern, der Rückzahlung von Schulden, Arbeitsbeschaffung für die Armen, Vermehrung des kultivierten Landes, Schiffbarmachung der englischen Flüsse und vielem anderen mehr. Hier soll es besonders um zwei spezielle theoretisch-praktische Verbesserungen gehen. Die eine betrifft kollektive geistige Arbeit, die andere – komplementär dazu – individuelle körperliche Arbeit. In beiden spiegelt sich der europäische Kolonialismus, einmal derjenige der Entdecker, einmal der der Siedler.
Zur gleichen Zeit wie der adlige Franzose Montchrétien schrieb auch ein geadelter Engländer über die Verbesserung der Verhältnisse, aber diesmal nicht im Staat, sondern im Bildungswesen. Es war Francis Bacon, ein unglücklicher politicus wie Machiavelli, erst außerordentlicher Berater der Königin Elizabeth, dann aufgestiegen bis zum Lordkanzler Lord Verulam unter James I., 1621 angeklagt und verurteilt wegen Korruption, bis zu seinem Tod (1626) ein verschuldeter, nachdenklicher Schriftsteller. Er publizierte On the Proficience and Advancement of Learning, Divine and Human (1605) und die überarbeitete Version davon lateinisch unter dem Titel De dignitate et augmentis scientiarum (1623): Über die Würde und die Mehrung der Wissenschaften. Die dazugehörigen Schritte oder Werkzeuge veröffentlichte er 1620 als Instauratio magna und darin vor allem sein Novum Organon, auf das alte Organon, eine Schriftensammlung des Aristoteles, anspielend. Darin überträgt er die Erfahrung des Entdeckerzeitalters, als die Welt scheinbar grenzenlos wurde, auf den Verstandesgebrauch in lateinischen Schulen, Universitäten und Akademien seiner Zeit. Genauer, er überträgt die Wissensorganisation der Seefahrer auf das Bildungswesen.
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